Recklinghausen. Die Pandemie hat Pflegeheime massiv getroffen. In vielen Einrichtungen herrscht wieder mehr Normalität, die an früher denken lässt.
Agathe Walbruch legt das gelbe Gesangsheftchen auf den Kaffeetisch zurück. „Das kennt man doch“, sagt die 85-Jährige bestimmt, „von früher.“ Und nickt Gertrud Bodden am Tisch gegenüber zu, die eigentlich noch vom Kuchenbacken erzählen will, doch da geht es auch schon los: „Der Mai ist gekommen“, „Alle Vögel sind schon da“ – Maifest im Wohnbereich 4 des Seniorenheims „Haus Abendsonne“ in Recklinghausen, mitten in der Pandemie.
20, 25 Senioren und Seniorinnen sitzen in einem wohlig warmen, mit Erinnerungsstücken eingerichteten Raum um Kaffeetische herum. Ein Gitarrist stimmt ein ums andere Lied an und man sieht manch ein Lächeln auf den Gesichtern – vor allem aber: Gesichter. Denn Masken tragen die Senioren nicht.
Noch vor einem Jahr: Besuchsverbot in NRW-Heimen bis zum Muttertag
Noch vor einem Jahr waren die Seniorenheime in NRW regelrecht abgeschottet. Zum Schutz der Bewohner vor dem Coronavirus hatte das Land im ersten Lockdown ein Besuchsverbot ausgesprochen. Zeitweise sollten Bewohner ihre Einrichtungen nicht verlassen. Es folgten Bilder von Senioren hinter Plexiglasscheiben, und in der zweiten Welle wuchsen die Sorgen um die Pflegebedürftigen, die trotz Schutzmaßnahmen massiv von dem Virus betroffen waren.
In NRW sind bislang 5904 Heimbewohner an oder mit dem Virus verstorben, es gab Mitte Dezember mehr als 4000 akute Infektionen bei rund 170.000 Pflegeheimbewohnern. Erst mit den Impfungen zum Jahreswechsel entspannte sich die Lage. Aktuell sind noch 392 akute Infektionen bekannt. Und in den Einrichtungen ist einiges möglich, das draußen vielfach nur deutlich eingeschränkt geht.
Gedächtnistraining, Wellness und Gesang: Wieder mehr Gruppenangebote möglich
Ja, sie habe auch Corona gehabt, sagt Agathe Walbruch zwischen zwei Liedern. Aber sie will davon nicht viel erzählen, auch die Nachrichten verfolge sie nicht mehr. „Hier zu singen, das lenkt ab“, sagt sie und Gertrud Bodden stimmt wieder zu. Es gebe auch Wellness, zählt die Nachbarin auf, Gedächtnistraining und alle Frauen hätten Kuchen gebacken. Hinter ihr wird jemand etwas lauter. „Die reden so viel, wir wollen doch singen.“
Ein kleines Maifest hat das Team von Heimleiter Jörg Klomann ausgerichtet, Maibaum im Ständer, sogar Eierlikörchen. Der 51-Jährige leitet das Heim seit 2018, seit 26 Jahren arbeitet er bei der Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen. In der Pandemie hätte er deutlich gemerkt, wie sehr den Bewohnern das Miteinander gefehlt habe, sagt er und fügt auf Nachfrage hinzu: „Mal abgesehen von den Ausbrüchen war hier niemand auf seinem Zimmer isoliert. Trotzdem ist vieles weggefallen. Das hat man gemerkt.“
Das Haus sei in der zweiten Welle stark betroffen gewesen. Auch deshalb habe er aufgeatmet, als das Impfteam kam. 190 Bewohner und Mitarbeiter seien geimpft worden. Genesene würden im Juni nachgeimpft. Wer immunisiert ist, habe seit März kaum Einschränkungen. „Wir haben sobald wie möglich wieder aktivierende Angebote geschaffen.“ Auf übergreifende Angebote werde aber verzichtet. Ausbrüche in anderen Heimen machten hellhörig: „Wir sind weiterhin vorsichtig.“
Bundesregelung lässt Geimpfte und Genesene auch ohne Test ins Heim
Noch gilt eine Testpflicht für alle Besucher. Laut NRW-Gesundheitsministerium sollen vollständig Geimpfte oder Genesene, deren Infektion nicht länger als sechs Monate her ist, voraussichtlich ab Sonntag ohne Schnelltest in die Heime gehen können. Mitarbeitende werden je nach Impfstatus derzeit ein- oder zweimal in der Woche getestet. Wer von außen kommt, auch Beschäftigte, trägt Maske.
Für Sigrid Meinberg und Ursula Hoffmann ist das aber das kleinste Übel. Die Frauen engagieren sich ehrenamtlich, bringen Bewohner zum Gottesdienst, helfen bei Veranstaltungen. „Man merkt, wie wichtig so etwas ist“, sagt Meinberg. „Der Gesprächsbedarf ist bei manchen groß.“
Leere Heime nach der Pandemie: Über 3000 freie Plätze laut NRW-Heimfinder
Neben ihnen nippt Lieselotte Hanisch an ihrer Maibowle. „Gut“, sagt die 85-Jährige mit den gewellten weißen Haaren, beugt sich dann aber doch nach vorn. „Ist aber mit Essenz gemacht“, flüstert sie, winkt lächelnd ab und erzählt von ihrem letzten Ausflug mit der Fahrradrikscha des Heims. Durch die Stadt sei es gegangen, in der sich so viel verändert habe, sagt die frühere Verkäuferin, die seit 2018 in dem Haus lebt. „Viele neue Gebäude.“ Und der Lockdown draußen? „Das bekommen wir ja nicht so mit.“
Die Folgen der Pandemie spürt man im Haus dennoch. Es ist leerer. Nur 86 der 101 Dauerpflegeplätze sind belegt. Noch vor der Pandemie gab es in Heimen Wartelisten – jetzt sind landesweit über 3000 Plätze frei. Heimleiter Klomann nennt das Homeoffice als einen Grund: Arbeitnehmer, die zu Hause arbeiten, könnten ihre Angehörigen eher betreuen, Heimaufenthalte verzögerten sich so. „Wir wissen aber auch, dass es bei vielen Menschen immer noch Ängste gibt“, sagt der 51-Jährige. Bilder besonders der zweiten Corona-Welle in den Heimen hängen nach. „Es wird dauern, bis sich das wieder legt.“
>>> Neue Allgemeinverfügung: Uneingeschränkte Besuche
NRW hat die Besuchsregel für Pflegeheime in dieser Woche nochmals angepasst. In Einrichtungen, in denen die Zweitimpfungen stattgefunden haben, können Bewohner zeitlich unbeschränkt Besuch erhalten. Begrenzt ist die Zahl der Besucher laut Verfügung durch die 7-Tages-Inzidenz vor Ort und den damit geltenden Regelungen für Zusammenkünfte.
Eine weitere Lockerung gilt laut NRW-Gesundheitsministerium voraussichtlich ab Sonntag mit der Schutzausnahmeverordnung zur Bundes-Notbremse: Vollständig geimpfte oder genesene Bescuher, deren Infektion mindestens 28 Tage, aber maximal sechs Monate zurückliegen muss, können mit entsprechendem Impf- oder Genesenennachweis ohne Test ins Heim.