Essen. Kliniken sind in der Pandemie gefordert, Fachkräfte ausgelaugt. Dennoch entscheiden sich Menschen wie Maurice Ritzerow-Düding fürs Pflegen.

Maurice Ritzerow-Düding wählt Papier und verliert. Es ist 13 Jahre her, dass er und seine Frau am Küchentisch sitzen. Die beiden haben gerade ihr Abitur gemacht, nun geht es um den Weg in einen Job – und um ihren Sohn Luca. Das Kind ist mehrfach behindert und das Paar weiß: Zeitgleich in die berufliche Ausbildung kann es nicht gehen. Also losen Mann und Frau die erste Bewerbung aus. Schnick, Schnack, Schnuck: Schere schlägt Papier.

2021 sitzt Maurice Ritzerow-Düding an einem anderen Tisch: In der Pflegeschule des Universitätsklinikums Essen beginnt er mit 31 Jahren seine Ausbildung zum Pflegefachmann – und er hätte wohl keinen ungewöhnlicheren Zeitpunkt wählen können.

Pflege ist in Deutschland nicht erst seit der Pandemie unter Druck

Deutschland steckt in der dritten Welle der Corona-Pandemie, Intensivstationen auch in NRW geraten zunehmend an ihre Grenzen und Pflegekräfte sind nach 13 Monaten Corona-Dauerlauf vielerorts ausgelaugt und nicht selten von politischen Entscheidern enttäuscht. In einer Dezember-Umfrage des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe haben fast 70 Prozent der Befragten aus Alten- und Krankenpflege erklärt, ihren Arbeitgeber wechseln zu wollen. Ein Drittel überlegt demnach sogar, ganz aus dem Pflegeberuf auszusteigen. Nicht erst seit der Pandemie ist die Pflege unter Druck: Gewerkschaften wie Verdi klagen seit Jahren über hohe Belastung und nicht ausreichendes Personal.

Und trotzdem gibt es Menschen wie Maurice Ritzerow-Düding aus Neukirchen-Vluyn, die in Zeiten wie dieser in einem Beruf wie diesem ihre Zukunft sehen.

Berufen nicht durch die Pandemie, aber geprägt von der Familie

Der 31-Jährige nennt keine großspurigen Motive, er ist kein Pandemieberufener und glaubt auch nicht, den Pflegenotstand eigenhändig zu bekämpfen. Pflege, sagt der gebürtige Schweriner stattdessen, habe ihn sein ganzes Erwachsenenleben begleitet, ohne dass er bislang diesen Beruf ergriffen hatte.

Das habe mit seinem Sohn begonnen. Luca ist heute 14 Jahre alt, doch er sei nicht wie andere 14-Jährige. „Luca ist auf dem Stand eines sechs bis acht Monate alten Kindes“, sagt der Vater. Zu den Diagnosen des Jungen gehörten eine therapieresistente Epilepsie und eine komplexe Hirnfehlbildung. Er sei bettlägerig, brauche Hilfe beim Atmen und einen Rollstuhl, aber er könne Vater, Mutter und seinen inzwischen zwei Geschwistern gegenüber äußern, wie es ihm geht.

Die Vereinbarung der Familie, dass der eine zu Hause bleibt und die andere eine Ausbildung beginnt, habe es ihnen ermöglicht, autark zu bleiben, sagt Ritzerow-Düding. „Wir brauchten wenige Hilfe von außen. Das war genau die richtige Entscheidung für uns.“ Der Vater pflegt, die Mutter auch beruflich: Sie entscheidet sich für eine Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin. Ihr Mann wird ihr Lernpartner - so begleitet ihn die Pflege weiter.

2020 entscheiden sich etwas weniger Menschen für eine Pflegeausbildung

In NRW haben 2020 rund 1000 junge Menschen mehr als im Vorjahr zu einer Ausbildung in der Pflege entschieden. Das muss nicht unbedingt mit der Pandemie zusammenhängen. 2020 sind die bislang getrennten Ausbildung in der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege nach langem politischem Ringen zusammengelegt worden. Auszubildende werden als Generalisten geschult und müssen eine Vertiefung wählen.

Bettina Birkenpesch-Weingarth, stellvertretende Leiterin der Schule für Pflegeberufe am Uniklinikum, hatte 2020 durchaus einen negativen Corona- Effekt erwartet. „Ich hätte mir vorstellen können, dass wir weniger Bewerbungen erhalten, dass Eltern ihre Kinder nicht in diesem Beruf sehen wollten. Aber das ist nicht eingetroffen.“ Es gebe immer noch mehr Bewerbungen als Ausbildungsplätze. Sie sei sich sicher, dass das Uniklinikum Essen als Maximalversorger mit seinem breiten Spektrum Interessenten besonders anspreche.

39 Azubis haben im April gestartet. „Da Präsenzunterricht aktuell nicht in der gewohnten Form möglich ist, unterstützen wir das digitale Lernen unserer Auszubildenden mit iPads, die sie erhalten. Damit haben sie Zugriff auf über 70 Fachbücher und können am Videounterricht teilnehmen.“ 340 Ausbildungsplätze am Uniklinikum sind aktuell belegt.

Das Interesse an dem Beruf steigt: In einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Sinus erklärte jeder fünfte Jugendliche, sich eine Pflegetätigkeit vorstellen zu können. Der Beruf sei sinnstiftend, hieß es. Beim Berufsverband der Pflegeberufe in NRW glaubt man, dass die Pandemie diesen Eindruck zwar befeuere. Er stehe aber im krassen Gegensatz dazu, dass sich Bedingungen in der Pflege nicht maßgeblich verändert hätten - und das frustriere viele.

Perspektivenwechsel: Pflegender Vater und beruflich Pflegender

Ritzerow-Düding erfährt Pflege von der Elternperspektive her und zugleich von der professionellen Seite - durch seine Frau, die inzwischen auf einer Frühchenstation in Moers arbeitet. „Ich glaube, dass mir diese Erfahrungen helfen“, sagt er. Hat er keine Angst vor einer Corona-Infektion? Natürlich, sagt der 31-Jährige. Aber er meint auch, an kaum einem Ort könne er sich so gegen das Virus schützen wie im Klinikum.

Sein Ziel ist nicht hochtrabend, aber menschlich: Er wolle erfüllt von der Arbeit nach Hause gehen, wissen, dass er einen Unterschied gemacht habe, dass etwas besser gelaufen ist als am Tag zuvor. Und er will werben für die Pflege, die er als facettenreichen Job wahrnimmt, der neben Fachwissen auch Seelsorge und Feingefühl erfordere. Pflege sei ein harter Job, aber durch seine Frau habe er auch erlebt, dass Pflege „eine verschworene Gemeinschaft“ sei, der er angehören wolle.

Insofern hat Papier gegen Schere vor 13 Jahren sogar gewonnen.