Essen. Raus aus der Zuschauerrolle: Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte fordert im Kampf gegen Corona die Einrichtung von Bürgerräten in Kommunen.
Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie scheint die Regierung sich über die Rechte des Parlaments hinwegzusetzen. Entscheidungen werden in den regelmäßigen Runden der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten getroffen. „Die Krise ist die Stunde der Exekutive“, sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit dieser Redaktion.
Um die Menschen stärker einzubinden und zusätzliches Wissen zu berücksichtigen, schlägt er die Bildung von Bürgerräten in den Städten vor. Welcher Typ des politischen Krisenmanagers sich im Wahljahr durchsetzt, müsse sich noch erweisen. Ein abwägender Kurs, für den Armin Laschet steht? Oder ein eher autoritärer Stil, den Markus Söder verkörpert?
Prof. Korte, setzt sich die Regierung bei der Bekämpfung der Pandemie über das Parlament hinweg?
Karl-Rudolf Korte: Den Pandemiefall kann nur der Bundestag ausrufen. Der Ausnahmezustand ist also nur durch Parlamentarier herbeizuführen. Dieses Recht hat das Parlament nach wie vor. Aber was uns stört ist die Dominanz eines nicht in der Verfassung vorgesehenen neuen Steuerungsgremiums: Die Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin.
Kommt die parlamentarische Debatte dabei zu kurz?
Mein Vorschlag ist, dass es vor solchen Runden eine Debatte im Bundestag und in den Landesparlamenten gibt und anschließend die Ministerpräsidenten in ihre Konferenz mit der Kanzlerin gehen. Danach muss in den Parlamenten wieder nachgesteuert werden, wie man die Ergebnisse in Landesverordnungen übersetzt. Dann wäre die Debatte auch sichtbarer für die Bürger.
Würde das angesichts der Notwendigkeit schneller Entscheidungen nicht zu langsam voran gehen?
Nein. Die Politik ist sehr schnell, viel schneller als wir erwartet haben. Erinnern wir uns, wie die Politik im ersten Lockdown reagiert hat und schnell Hilfen organisiert hat. Tempo nimmt man mit dem Verfahren nicht heraus, aber man verändert die Legitimation von politischen Entscheidungen. Man kann natürlich sagen, die Krise ist immer die Stunde der Exekutive. Dann muss es aber auch Tage der Legislative geben und der Debatte. Auch die Bürger müssen sich mehr einbringen können.
Wie soll das geschehen?
Wir sollten die Bürger in Bürgerräten einbinden. Dort könnte man über das Dilemma Freiheit versus Gesundheit diskutieren. Die Ergebnisse wären eine zusätzliche Quelle für politische Entscheidungen. Bislang sind die Bürger zu sehr Zuschauer bei den Pandemiemaßnahmen. Nach einem Jahr wäre es gut, wenn wir auch selbst sagen, was wir wollen.
Wie sollten diese Bürgerräte zusammengesetzt sein?
Da gibt es bereits gute Modelle, zum Beispiel in Baden-Württemberg. Die Mitglieder sollten nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Nicht Betroffene partizipieren, sondern Zufallsbürger. Die Bürger könnten dann aus ihrer Kommune, aus ihrem Lebensumfeld ihre Erfahrungen einbringen und Maßnahmen auf kommunaler Ebene vorschlagen, etwa wo und ob es Lockerungen geben kann. Ihre so gewonnene Expertise geben sie an die Parlamente weiter. Das Votum eines solchen Bürgerrats kann dann in die Politik einfließen und die Qualität der Entscheidungen ändern.
Glauben Sie, dass die Politik ein Interesse an solchen Beteiligungsformaten hat?
Ja, auf jeden Fall. Weil es den Abgeordneten hilft. Es erweitert die Legitimationsquelle ihrer Entscheidungen. Es wertet das Parlament und die auf breite Repräsentation angelegte Verfassung auf.
Von einer Einbeziehung der Bürger in die Pandemie-Maßnahmen war bislang aber noch nicht die Rede…
Nein, aber ich finde, wir müssen gemeinsam erklären, wann die Pandemie endet und wir unsere Grundrechte wiederbekommen können. Wir müssen nicht untertänig darauf warten. Wir sehen ja ein, dass die Maßnahmen sinnvoll sind und folgen ihnen vernunftbestimmt. Aber es muss jetzt eine weitere Stufe geben, die Bürger stärker einzubeziehen, was sie wollen und welche Risiken sie bereit sind einzugehen. Der Gesundheitsschutz steht nicht an erster Stelle im Grundgesetz, sondern die Würde des Menschen.
Lautet das bisherige Regierungsmotto: erstmal Corona bekämpfen, dann um die Demokratie kümmern?
Nein. Die Krisenpolitik setzt nicht nur auf Verbote, sondern mehr auf Einsicht und Verhaltenssteuerung. Es gibt kein umfassendes Regulierungsregime wie in anderen Ländern mit strikten Ausgangssperren, sondern eine Steuerung zwischen Einschränkungen und Appellen. Ich nenne das kuratiertes Regieren. Die appellativen Anordnungen greifen nur bei Solidarität der Bürger.
Welcher Typ von Krisenmanager ist jetzt gefragt?
Es gibt in der Union mit Laschet und Söder die Konkurrenz von zwei verschiedenen Führungs-Typen bei der Kanzlerkandidatur. In der Krise gibt es häufig eine Sehnsucht nach einer verlässlichen Autorität, nach einem Krisenlotsen mit einem Masterplan, der uns beschützt. Neodirigistisch gilt dann die Entscheidungsprosa. Unsichere Wähler wählen eben keine unsicheren Politiker.
Also Vorteil Söder?
Nur bedingt im aufgeklärten Bürgertum. Denn andere bevorzugen einen kooperativen Stil und folgen lieber jemandem, der abwägt, der sichtbar macht, dass er lernt und auch zu neuen Entscheidungen kommt, der zuhört und auch Fehlertoleranz nutzt.
Wer wird im Superwahljahr Vorteile haben?
Es ist schwer zu sagen, welcher Stil in der im Herbst geimpften Republik favorisiert wird. Ich erkenne in allen politischen Lagern die Sehnsucht nach beiden Typen.
Also Laschet oder Söder?
Gute Frage!
Die Zustimmung hängt sicher auch von dem weiteren Verlauf der Pandemie ab…
Dabei darf man aber nicht nur auf die Inzidenzwerte und Todesraten schauen. Man muss auch fragen: Wie hat sich die Freiheitskurve entwickelt? Auch daran muss sich zeigen, wer am Ende der bessere Krisenmanager ist.
Gibt es eine Politikmüdigkeit der Bürger in der Pandemie?
Es gibt eine Ermüdung und eine Gewöhnung an die Angst, das ist völlig normal nach einem Jahr Pandemie. Auch die Kritik am Missmanagement nimmt zu. Doch Politikverdrossenheit existiert nicht. Im Gegenteil: Die Anerkennung der Politik war noch nie so hoch wie jetzt. Sie hat Leben gerettet, Arbeitsplätze gesichert und Geld verteilt. Das schließt Ungeduld und Enttäuschung aber nicht aus.
Können wir aus der Bewältigung der Krise etwas für die Zukunft lernen?
Ja. Wir müssen der Rettung eine Richtung geben. Wir haben erkannt, wie überlebenswichtig Wissen und Wissenschaft sind, dass Politik im Lernmodus auftreten sollte. Dass die föderalen Strukturen bei der Bekämpfung der Pandemie einen Vorteil bieten, dass wir in den Gesundheitsbereich investieren müssen. Wie die Politik den Vorsorgestaat weiterhin sichern und garantieren kann, wird auch die Bundestagswahl bestimmen. Politiker, die hier Zuversicht vermitteln, werden profitieren. Denn neue Krisen werden kommen. Die Frage ist: Wie fit sind wir dann?
Zur Person:
Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. 2006 gründete er die NRW School of Governance, deren Direktor er seitdem ist. Von 2013 bis 2015 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft.
Korte ist ein gefragter Analyst bei Landtags- und Bundestagswahlen. Einer breiten Öffentlichkeit ist er durch seine Beiträge in Tageszeitungen, Magazinen und im Fernsehen bekannt.