Düsseldorf. NRW-Innenminister Reul kann sich über eine glänzende Verkehrsunfall-Statistik im Pandemie-Jahr nicht uneingeschränkt freuen. Was folgt?
Auf den ersten Blick bot die Verkehrsunfallstatistik 2020 für Innenminister Herbert Reul (CDU) reichlich Anlass zur Freude. Auf Nordrhein-Westfalens Straßen verzeichnete die Polizei so wenige Todesopfer (430) wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1953. Die Zahl der Schwerverletzten (12.110) sank um mehr als zehn Prozent. Erstmals seit langer Zeit gab es kein tödlich verunglücktes Schulkind in NRW.
Doch die positive Entwicklung ist zu einem Gutteil auf einen Corona-Sondereffekt zurückzuführen. Zeitweise war das Verkehrsaufkommen im vergangenen Jahr durch Heimarbeit und Kontaktbeschränkungen um 40 Prozent zurückgegangen. „Die Zahlen könnten besser sein“, räumte Reul ein. Vor allem die Entwicklung auf den Autobahnen gab dem Minister zu denken: Hier stieg die Zahl der Unfalltoten sogar von 50 auf 63. „Die Straßen waren leerer, aber das schützt nicht davor, sich tot zu rasen“, bilanzierte Reul bitter. Als Hauptunfallursache löste die Geschwindigkeit im Vergleich zum Vorjahr den fehlenden Abstand ab.
Tempo-Limit auf Autobahnen? Reul wirkt nachdenklicher
Das könnte die Debatte über ein generelles Tempo-Limit 130 auf Autobahnen neu befeuern. Reul wirkte bei diesem Thema jedenfalls nachdenklicher als in früheren Jahren. Der CDU-Mann führte allerdings ins Feld, dass auf vielen NRW-Autobahnen bereits heute eine Geschwindigkeitsbeschränkung herrsche oder in Normalzeiten faktisch gar nicht schneller gefahren werden könne. „Ich bin sehr unsicher geworden“, gab Reul zu.
NRW hat den unter der rot-grünen Vorgängerregierung eingeführten „Blitzer-Marathon“ wieder abgeschafft und setzt stärker auf unangekündigte Geschwindigkeitsmessungen. Die vor Jahren diskutierte Abschnittskontrolle („Section Control“) ist nach einem Pilotversuch in Niedersachsen nicht weiter vorangekommen. Laut Reul fehlten im Ballungsraum Rhein-Ruhr die notwendigen längeren Messstrecken, außerdem sei die Technik deutlich teurer als normale Blitzgeräte.
"Blech-Tindern" - mehr Frauen unter Auto-Posern
Gegen den Corona-Trend stieg auch die Zahl der Unfälle mit Pedelecs sprunghaft an. Im vergangenen Jahr verunglückten 3897 Nutzer von Elektro-Fahrrädern – gegenüber 2019 ein Plus von 44 Prozent. 30 von ihnen kamen sogar ums Leben – sieben mehr als im Vorjahr. Die meisten Opfer waren über 65 Jahre alt. „Wir haben ein Pedelec-Problem“, sagte Reul.
Nach Erkenntnissen des Innenministeriums führe die erfreuliche Mobilität älterer Menschen dazu, dass manche das Tempo der elektronisch unterstützten Räder falsch einschätzten. Über eine Helmpflicht will Reul „ernsthaft nachdenken“, hofft jedoch auf einen freiwilligen Trend zum Helmschutz wie etwa beim Skifahren. Man müsse nicht alles gesetzlich verordnen, sondern könne gerade bei der älteren Zielgruppe auf Einsicht setzen. Möglicherweise müssten auch Beratung und Angebote zum Fahrtraining ausgebaut werden.
Die Zahl normaler Fahrradunfälle ist dagegen trotz der gestiegenen Nutzung spürbar um vier Prozent zurückgegangen. Die Zahl der tödlich verunglückten Motorrad-Fahrer ging mit 65 (2019: 72) ebenfalls zurück. Ein Corona-Phänomen scheint der Zuwachs an Raser- und Auto-Poser-Treffen zu sein. Allein die Zahl der festgestellten illegalen Rennen (1515) hat sich mehr als verdoppelt.
Etablieren konnte sich inzwischen bei der Verkehrspolizei der Antrag auf Auslesen einkassierter Mobiltelefone. 2020 wurden 446 Handys sichergestellt. Immer wieder kann die Polizei so nachvollziehen, ob sich Autofahrer vor dem Unfall ablenken ließen oder gar sich selbst bei Verkehrsdelikten filmten. Angesichts geschlossener Bars und Discos tummelten sich auch immer mehr junge Frauen in der Autoposer-Szene. Reul sprach von „Blech-Tindern“ und warnte: „Auf die Romanze wartet hinter der nächsten Kurve der Tod.“