Essen. Kaum Nachwuchs, steigende Schülerzahlen: Nur ein Drittel der Lehrerstellen können bis 2030 besetzt werden. Ein Experte fordert Notmaßnahmen.
Der bereits bestehende Mangel an Lehrkräften wird sich in den kommenden Jahren noch drastisch verschärfen. Vor allem in den wichtigen MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, werde sich der Mangel an Fachlehrkräften bedrohlich ausweiten. So werden in Nordrhein-Westfalen bis 2030 zwei Drittel der in diesen Fächern benötigten Lehrkräfte in den weiterführenden Schulen fehlen.
Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle Studie, die der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Telekom-Stiftung erstellt hat. Ursachen sind vor allem die stark steigenden Schülerzahlen sowie eine sinkende Zahl von Absolventen mit diesem Fächerspektrum, zugleich scheiden viele dieser Lehrkräfte in den kommenden Jahren aus dem Schuldienst aus.
Der Lehrermangel deutete sich lange an
Schon die Vorgängerstudie aus dem Jahr 2014 zeigte einen eklatanten Mangel an MINT-Lehrern, so Klemm. Damals aber sanken die Schülerzahlen. Nun hat sich der Trend umgekehrt, doch die Politik habe darauf nicht reagiert.
„Es ist seither nichts passiert“, stellt Klemm fest. „Im Gegenteil, die Situation hat sich verschlimmert, obwohl die Zahlen schon damals heftig diskutiert wurden.“ Lag 2014 die berechnete Bedarfsdeckungsquote für alle MINT-Fächer bis zum Schuljahr 2025/26 noch bei immerhin zwei Drittel, rutschen nach neuen Zahlen die Prognosen auch für die bislang stabilen Fächer stark ab.
So können voraussichtlich im Fach Mathematik bis 2030/31 nur noch 43 Prozent der benötigten Stellen besetzt werden. In Biologie sind es 44 Prozent. „Und die ohnehin dünne Versorgungslage in Informatik und Technik droht, sich nochmals drastisch zu verschlechtern“, heißt es in der Studie. In der Informatik könnten demnach nur sechs Prozent (Prognose 2014: 25 Prozent) der nötigen Stellen besetzt werden, in Technik sogar nur vier Prozent.
Nur ein Drittel der Stellen kann besetzt werden
Nach Klemms Prognose werden einem Einstellungsbedarf von knapp 40.000 MINT-Lehrkräften bis zum Jahr 2030/31 nur rund 13.300 neue Lehrkräfte gegenüberstehen. Dies ergebe insgesamt eine Bedarfsdeckungsquote von lediglich 34 Prozent. Das bedeutet: Nur ein Drittel der freien Stellen könne besetzt werden.
Ob zudem die auch in der Wirtschaft nachgefragten wenigen Absolventen dieser Studiengänge dann tatsächlich Lehrer werden, sei angesichts der dort besseren Verdienstmöglichkeiten eine offene Frage, gibt Klemm zu bedenken. Dieser negative Trend sei nicht nur in NRW zu erkennen, sondern mache sich bundesweit bemerkbar.
„Die Studienergebnisse zeigen, dass es nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach Zwölf ist, was qualifizierten Lehrernachwuchs in den so wichtigen MINT-Fächern angeht“, sagte Thomas de Maizière, Vorsitzender der Deutsche Telekom Stiftung. „Hier müssen Politik und Hochschulen schnellstens handeln und dafür sorgen, dass die Prognose nicht Realität wird“, fordert de Maizière.
Negative Auswirkungen für Bildung und Digitalisierung
Auch Klemm sieht negative Folgen für die Ausbildung der jungen Generation sowie für den Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt. „Wir erleben in allen Bereichen einen Digitalisierungsschub“, so Klemm. „Von den Schulen über Dienstleistungen bis zur industriellen Fertigung. Doch in den Schulen laufen wir dieser Entwicklung massiv hinterher.“ Die Wissenslücken müssten dann anschließend mühsam „aufgefüllt“ werden.
Kurzfristig könne man den Trend kaum noch umkehren, so der Bildungsforscher. Denn bis ein Informatik-Student an die Schule komme, vergingen im Schnitt sieben Ausbildungsjahre. Dennoch müssten jetzt schnell einige „Notmaßnahmen“ ergriffen werden, um die Entwicklung zumindest abzumildern. So müsse die Politik deutlicher als bisher mit den guten Einstellungschancen für MINT-Lehrkräfte werben, um die Zahl der Studierenden zu erhöhen. Zugleich müssten sich die Universitäten stärker darum bemühen, die teils hohen Abbrecherzahlen durch eine bessere Betreuung zu senken.
Wenig Chancen auf Besserung
Zudem müssten wohl „auf Jahre hinaus“ auch Lehramtsanwärter wie derzeit schon vollumfänglich für den eigenverantwortlichen Unterricht eingesetzt werden. Zugleich sollte die Zahl der Quer- und Seiteneinsteiger möglichst erhöht werden.
Klemm verweist darauf, dass diese Maßnahmen voraussichtlich nicht dazu führen werden, den Bedarf an Fachlehrkräften in NRW vollständig zu decken. „Es wäre naiv zu glauben, dass wir das Steuer herumreißen können. Die Aussichten sind ziemlich miserabel“, räumt er ein. Dennoch stünden einige Instrumente zur Verfügung, die jetzt genutzt werden sollten.