Essen/Bielefeld. Die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Annette Kurschus, glaubt, dass die Weihnachtsbotschaft vielen besonders nah kommt.

Mit ihrer Empfehlung, wegen Corona an den Weihnachtsfeiertagen auf Präsenz-Gottesdienste zu verzichten, hat die Evangelische Landeskirche von Westfalen bundesweit für Aufsehen gesorgt. Wie fallen die Reaktionen vor Ort aus?

Annette Kurschus: Wir haben vorwiegend dankbare Rückmeldungen erhalten. Von den meisten Gemeinden wird unsere Empfehlung als hilfreich empfunden, weil sie Orientierung gibt und verlässliche Planung ermöglicht. Ich höre auch Kritik. Manche beklagen, man müsse doch gerade jetzt mit Trost und Zuspruch für die Menschen da sein. Andere sehen sich durch die Empfehlung in ihrer Eigenverantwortung eingeschränkt. Wenn eine Gemeinde Präsenz-Gottesdienste verantworten will, darf sie das tun. Wir haben als Kirchenleitung nicht den Anspruch, unsere Empfehlung sei der einzig richtige Weg. Aber ich halte ich es für unsere Pflicht, eine klare Richtung vorzugeben.

"Es entfällt auch manches, worüber wir sonst stöhnen"

Die Empfehlung gilt bis zum Ende des Lockdowns am 10. Januar. Was folgt danach?

Ich gehe davon aus, dass der Lockdown länger dauern wird. Dann werden wir neu beraten, was das für unsere Gottesdienste heißt. Unsere Kirchengemeinden haben inzwischen wunderbare Ideen entwickelt, auf unterschiedlichste Weise Gottesdienst zu feiern und den Menschen auch ohne körperliche Nähe nah zu sein. Darauf kommt es jetzt an.

Abgesagte Gottesdienste, eingeschränkte Familientreffen: Wird Weihnachten 2020 ein Fest des Verzichts?

Wir werden auf einiges verzichten müssen, was uns lieb ist. Das tut weh. Und: Es entfällt manches, worüber wir sonst stöhnen. Das könnte auch eine Chance bedeuten. Wir spüren unsere Verletzlichkeit zurzeit anders als sonst, vielleicht berührt uns Gottes Kommen in die Welt deshalb ganz neu. Der Schöpfer der Welt begibt sich als verletzliches Kind mitten hinein in alles, was uns zu schaffen macht. Der Engel rief sein „Fürchtet euch nicht!“ ursprünglich auf dunklem Feld, und die es zuerst hörten, standen nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Es könnte sein, dass die Weihnachtsbotschaft uns in diesem Jahr besonders nah kommt. Das wäre in allem Verzicht ein großes Geschenk.

Neu entdecken, was wirklich wichtig ist

Sie sehen in der aktuellen Krise auch eine Chance für das Fest?

Die Weihnachtstage sind in der Regel mit hohen Erwartungen verknüpft. Die ganze Familie trifft sich; auch diejenigen, die sich sonst selten nur sehen. Es soll harmonisch und friedlich zugehen, alle sollen das Zusammensein genießen. Das hat auch seine Tücken: Wenn man viel erwartet, steigt der Druck. In diesem Jahr sind unsere Erwartungen gedämpft. Wir spüren, was uns fehlen wird. Und ich ahne: Wir werden neu entdecken, was uns wirklich wichtig ist, was uns unsere Liebsten bedeuten – und wie wir einander auch über die Entfernung nah sein können.

Viele Menschen besuchen Gottesdienste nur zu Weihnachten. Machen Sie sich Sorgen, dass diese sich jetzt endgültig von der Kirche verabschieden?

Diese Sorge teile ich nicht. Ich freue mich immer wieder über die Vielen, die zum Weihnachtsfest in unsere Kirchen kommen, um Gottesdienst zu feiern. Auch und gerade über diejenigen, die nur dieses eine Mal im Jahr da sind. Dieses eine Mal sollen sie etwas hören und erfahren, was sie berührt. Die Menschen, die nur zu Weihnachten kommen, werden das gemeinsame Singen und Beten in diesem Jahr womöglich besonders vermissen. Im nächsten Jahr werden sie umso lieber wiederkommen – und sie werden herzlich willkommen sein.

"Unsere Seelsorger sind beschäftigt wie nie"

Die Kirche ist in der Corona-Krise auffällig still. Haben Wissenschaftler die Stimme der Kirche ersetzt?

Diesen Vorwurf habe ich oft gehört. Und mich gefragt, was wohl dahinter steckt. Unsere Seelsorgerinnen und Seelsorger sind beschäftigt wie nie; in unseren diakonischen Einrichtungen sind wir für die Menschen da – auch und gerade jetzt. Und doch ist da immer wieder der Ruf nach einem Wort der Kirchen. Offenbar erwarten die Menschen Orientierung in dieser bedrückenden Krise. Letztlich verbirgt sich in der Frage nach den Kirchen wohl die Frage nach einem „höheren Sinn“ des Ganzen, die Frage nach Gott. Die Frage nach Gott wachzuhalten in unserer Gesellschaft: Das ist unsere kirchliche Aufgabe. Sie wird von uns eingefordert. Und das ist gut so.

Hat Kirche einen schweren Stand, weil sie keine schnelle Antwort geben will oder kann?

Schnelle Antworten werden gern gehört. Aber wir überheben uns, wenn wir Gott zu erklären versuchen. Ob und was Gott mit dieser Pandemie zu tun hat; ob er uns damit etwas sagen will – und wenn ja, was; warum er nicht helfend eingreift und der Not ein Ende macht: Wir sollten uns hüten, hier die „richtigen“ Antworten parat zu halten. Wir können Gott weder plausibel machen noch müssen wir Gott rechtfertigen. Seine Möglichkeiten sind so viel größer als unsere. Sein Handeln übersteigt unsere Logik. Er hat verheißen, bei uns zu sein. Das ist der Grund unserer Hoffnung. Diese Hoffnung haben die Kirchen in die Welt zu tragen. Mit Worten und mit Taten.

"Wissenschaft und Glaube schließen einander nicht aus"

Ein kleiner, aber lautstarker Teil der Bevölkerung flüchtet sich in der Pandemie in offenkundig irrationale Verschwörungstheorien und lehnt wissenschaftliche Erkenntnisse ab. Was sagen Sie zu dieser Art von „Sinnsuche“?

Dafür fehlt mir jedes Verständnis. Und ich halte es für extrem gefährlich. Die Vernunft ist eine gute Gabe Gottes, die es nüchtern einzusetzen gilt. Auch und gerade in diesen außergewöhnlichen Zeiten. Wissenschaft und Glaube schließen einander nicht aus. Allerdings gerät jede Wissenschaft irgendwann an ihre natürlichen Grenzen. Der Glaube lebt von einer Verheißung über diese Grenzen hinaus. Es ist, als halte er den Himmel offen – und damit eine Perspektive, die bleibt. Auch dann, wenn all menschlichen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Eine solche Perspektive kann in großer Gefahr – etwa durch eine Pandemie – gelassen machen. Aber nicht deshalb, weil sie zum fahrlässigen Leugnen der Gefahr führt, sondern umgekehrt: Weil sie die Gefahr ernstnimmt und die Hoffnung auf Rettung nicht aufgibt.

Ein Dilemma

Was muss unsere Gesellschaft leisten, um gut durch die Pandemie zu kommen?

Das Gebot der Stunde heißt: Kontakte reduzieren. Das ist eine schwere Aufgabe, weil wir auf Kontakte angewiesen sind. Leben ohne Begegnung, ohne körperliche Nähe und ohne Berührung geht auf Dauer nicht. Auch Einsamkeit kann krank machen. Darin liegt das Dilemma dieser Pandemie. Ältere Menschen sagen: Selbst in Kriegszeiten blieben die Kirchen zum Gottesdienst geöffnet. Ja, das stimmt! Wenn Gefahr droht, ist unser erster Reflex, die Nähe vertrauter Menschen zu suchen und sich gemeinsam sicherer zu fühlen. Diese Funktion erfüllen in Notzeiten auch unsere Kirchen und Kirchengemeinden. Die verrückte Not dieser Corona-Notzeit ist: Ausgerechnet solche schützende Nähe ist jetzt nicht möglich. Ein wirkliches Dilemma, in dem es keine „richtige“ Entscheidung gibt. Das alles ist eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft.

Die Zustimmung in der Bevölkerung zu den Corona-Maßnahmen ist nach wie vor hoch, nimmt aber insgesamt ab. Machen Sie sich Sorgen um die Solidarität?

Menschen achten aufeinander und sorgen füreinander. Aber die Angst nimmt zu. Stärker als zu Beginn der Pandemie haben wir unseren eigenen Schutz im Blick. Je mehr wir erfahren über die Wirkungen des Virus, über mögliche Spätfolgen und unberechenbare Krankheitsverläufe, desto unbehaglicher rückt uns die Gefahr auf den Leib. Das macht es schwieriger mit der Solidarität.

"Andere Krisen haben sich nicht in Luft aufgelöst"

Politiker bezeichnen die Corona-Pandemie immer wieder als größte Krise der Nachkriegszeit. Können wir zulassen, dass das Virus alle anderen Probleme in den Schatten stellt?

Es ist die Natur von Krisen, uns ganz in ihren Bann zu ziehen. Anderes gerät an den Rand unserer Aufmerksamkeit, oder wir vergessen es ganz. Da müssen wir wachsam bleiben. Was bis vor wenigen Monaten noch unsere Schlagzeilen bestimmte, hat sich ja nicht einfach in Luft aufgelöst. Die Flüchtlinge in den Lagern auf Lesbos zum Beispiel leben weiterhin unter unwürdigen Bedingungen. Kaum jemand spricht zurzeit von ihnen. Noch vor kurzem wollten wir Plastik um des Klimas willen aus unserem Alltag verbannen, jetzt packen wir Lebensmittel aus Hygienegründen in mehrere Schichten Plastikfolie ein. Unsere christliche Aufgabe bleibt es, auch in akuter Gefahr über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und daran zu erinnern: Wir sind nicht allein auf der Welt. Und auch unsere Kinder und Kindeskinder wollen gern und gut auf dieser Erde leben.