Mülheim/Essen/Düsseldorf. Lange wurde kein Haltungsproblem bei der Polizei gesehen, die rechten Chats zeigen das Gegenteil. Eine von fünf Dienstgruppen ist suspendiert.
Als die nordrhein-westfälische Polizei Ende Mai ihre neuen „Extremismusbeauftragten“ für jede Behörde vorstellte, wirkte Michael Frücht noch ziemlich zuversichtlich, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handeln würde. Extremisten im Einsatz? Ein größeres Haltungsproblem unter den 50.000 Beamten konnte der Chef des Landesamtes für Personalangelegenheiten damals nicht erkennen.
Am Mittwochmorgen sitzt Frücht konsterniert in seiner Uniform im großen Saal des Düsseldorfer Innenministeriums neben Minister Herbert Reul (CDU) und sagt: „Ich bin jetzt 44 Jahre im Polizeidienst. Angesichts dieser Vorgänge schäme ich mich.“
200 Kollegen der Sonderkommission „Parabel“ durchsuchten Privatwohnungen
Zuvor hatte Reul öffentlich gemacht, was bereits seit Anfang September die Führungsebene des Innenministeriums bestürzt: Mindestens 29 Polizisten, darunter sechs Frauen und auch Beamte mit Migrationshintergrund, müssen sich seit Jahren Bilder und Nachrichten mit schlimmster Nazi-Hetze in privaten Chat-Gruppen hin und hergeschickt haben. Hakenkreuze, Reichskriegsflaggen, Hilter-Fotos, die fiktive Darstellung eines Flüchtlings in einem Konzentrationslager oder Szenen einer Erschießung von Menschen mit dunkler Hautfarbe. Mindestens 126 strafrechtlich relevante Bilddateien zirkulierten in der Gruppe.
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„Wir reden hier von übelster und widerwärtigster neonazistischer, rassistischer und flüchtlingsfeindlicher Hetze“, räumte Reul ein. Alle 29 Polizisten wurden am Mittwoch vom Dienst suspendiert, 14 besonders aktive Chat-Teilnehmer sollen ihren Beamtenstatus verlieren und rausgeschmissen werden. Bei ihnen rückten am Mittwochmorgen mehr als 200 Kollegen der Sonderkommission „Parabel“ an und durchsuchten deren Privatwohnungen.
Dreh- und Angelpunkt der Chatgruppe ist die Mülheimer Polizeiwache
Dreh- und Angelpunkt der Chatgruppe scheint die zum Präsidium Essen gehörende Mülheimer Wache zu sein. Die allermeisten Chat-Teilnehmer haben irgendwann einmal dort im Wach- und Wechseldienst gearbeitet oder taten es bis zum Mittwoch. Es sind normale Streifenbeamte zwischen 30 und 50 Jahren, darunter auch der Dienstgruppenführer. Jetzt ist eine komplette von fünf Mülheimer Dienstgruppen außer Dienst, was die Dimension der Verfehlungen zeigt.
Reul sprach von einer „Schande für die NRW-Polizei“. Der Sicherheitsapparat werde „bis ins Mark getroffen“. Als einziger Trost bleibe ihm, dass die rechtsextreme Chatgruppe durch die Polizei selbst ans Tageslicht gezerrt wurde. Ende August war intern in völlig anderer Angelegenheit gegen einen Polizisten ermittelt worden, der im Verdacht stand, Dienstgeheimnisse an einen Journalisten verraten zu haben. Bei der Sicherstellung des Privathandys wurden die Nazi-Inhalte bemerkt. Seither scheint die Meldekette bis an die Spitze des Innenministeriums funktioniert zu haben.
Es bleibt unklar, ob Chat-Teilnehmer Bezüge zur rechten Szene haben
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Obwohl eine der privaten Chat-Gruppen bereits 2013 gegründet worden sein soll und es eine Vielzahl von passiven Teilnehmern gab, ist im Laufe der Jahre nie jemand auf die Idee gekommen, die strafbaren und menschenverachtenden Inhalte zu melden. „Falsch verstandenen Korpsgeist darf es nicht geben“, sagte Reuls Polizei-Abteilungsleiterin Daniela Lesmeister, die einst selbst in Gelsenkirchens Problemviertel Streife fuhr. Essens Polizeipräsident Frank Richter, dessen eigene Ehefrau Extremismusbeauftragte seiner Behörde ist, hat nach eigener Auskunft keinerlei Hinweise auf die extremistischen Umtriebe in seiner Behörde gehabt. Essen ist kein leichtes Pflaster für die Polizei, weshalb Richter jetzt einen „Autoritätsverlust“ seiner Leute auf der Straße fürchtet.
Völlig aus heiterem Himmel kommen die Vorgänge freilich nicht. Im Februar wurde in Hamm sogar ein Mitarbeiter durch die eigenen Kollegen festgenommen. Gegen ihn wird wegen des Verdachts der Unterstützung einer rechtsterroristischen Zelle ermittelt. Reul hatte auch schon länger einen bangen Blick nach Hessen und die Probleme seines Amtskollegen mit dem dortigen NSU 2.0-Netzwerk geworfen. Blindes Vertrauen schien er in all die routinierten Versicherungen seiner Untergebenen jedenfalls nicht zu haben, dass die NRW-Polizei keinerlei Extremismus-Problem habe. Ob es Bezüge der Chat-Teilnehmer in die rechte Szene gibt, blieb zunächst unklar.
Alle Polizei-Führungskräfte in NRW werden zu Fachtagungen verpflichtet
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Reul flüchtete sich am Mittwoch in die Offensiv-Strategie, die er schon einmal nach dem Kindesmissbrauchsskandal von Lügde erfolgreich angewendet hatte: Er kündigte an, den gesamten Apparat ohne Rücksicht auf Verluste umzukrempeln. Er bestimmte den Verfassungsschützer Uwe Reichel-Offermann zum „Sonderbeauftragten rechtsextremistische Tendenzen in der nordrhein-westfälischen Polizei“.
Noch am Mittwochnachmittag wurden sämtlich Behördenleiter nach Düsseldorf einbestellt. Alle 2000 Führungskräfte der NRW-Polizei werden zu Fachtagungen verpflichtet. Reul, der sonst immer voller Pathos „von meiner Polizei“ schwärmt, zog eine bittere Zwischenbilanz: Man habe Beschäftigte, „die ein echtes Haltungsproblem haben“.