Lesbos. Warum der NRW-Regierungschef in einem Elendslager auf Lesbos vorzeitig in Sicherheit gebracht werden musste - und wie er reagierte.

Armin Laschet hat sich bestmöglich getarnt, als er am Dienstagmorgen das berüchtigte Flüchtlingslager „Moria“ auf der griechischen Insel Lesbos betritt. Wenn der nordrhein-westfälische Ministerpräsident schon als erster deutscher Spitzenpolitiker das Elendsviertel persönlich in Augenschein nehmen wolle, solle er sich bitte informell kleiden, hatten ihm die örtlichen Behörden geraten. Laschet trägt also ein Polohemd zur Sommerhose und ist mit seinen nur 1,72 Meter Körpergröße in einer Menschentraube leicht zu übersehen.

So kann er sich rund 40 Minuten lang vom stellvertretenden Camp-Leiter Babakos Nikos die katastrophalen Zustände in „Moria“ zeigen lassen. Er läuft zunächst unbemerkt an aufgekratzten Kindern, im Schatten kauernden Familien und zahnlosen Greisen vorbei. Dann aber spricht sich unter den Flüchtlingen herum, dass ein Politiker aus Deutschland zu Gast ist. Schnell sammeln sich Dutzende Bewohner, umringen Laschets Delegation, skandieren „Free Moria“. Es wird wild gestikuliert und an Zäunen gerüttelt. Polizisten mit schwerer Aufrüstung beziehen Position. Die Sicherheitsbeamten drängen zum Aufbruch. Laschets Gespräch mit Vertretern von „Ärzte ohne Grenzen“ muss ins deutlich besser ausgestattete Flüchtlingslager „Kara Tepe“ weniger Kilometer weiter verlegt werden.

Fast 14.000 Flüchtlinge leben im Elendscamp "Moria"

Fast 14.000 Flüchtlinge leben allein in „Moria“. Rund um ein ursprünglich für 3000 Bewohner ausgelegtes Container-Dorf auf einem ehemaligen Militärgelände haben sich Massen an Zelten und Holzverschlägen angesiedelt. Es gibt keine Perspektive. Jedem Asylbewerber, der sich freiwillig ins Heimatland zurückbringen lässt, werden in einem Container 2000 Euro in die Hand gedrückt. Die geplante Sammelrückführung in die Türkei funktioniert nicht. Eine Überführung aufs griechische Festland könnte wiederum das Schleppergeschäft ankurbeln. Ein EU-Verteilmechanismus ist gescheitert. Seit Monaten musste das Areal zudem wegen der Corona-Krise abgeriegelt. Nur so ließ sich die Infektionsgefahr draußen halten. Die Stimmung wirkt entsprechend explosiv.

Europa habe keine Strategie und lasse die Menschen allein, beklagt sich Marco Sandrone von „Ärzte ohne Grenzen“ bei Laschet. Tausende Flüchtlinge seien heimatlos und einige würden „lieber sterben als in Moria zu bleiben“. Laschet fährt nachmittags noch einmal allein mit seinem Vize-Ministerpräsidenten Joachim Stamp (FDP) dorthin und läuft inkognito durch den wilden Teil des Camps, der „Dschungel“ genannt wird. Der Ministerpräsident wirkt später fassungslos, dass sich das reiche Europa Zustände wie in der „Dritten Welt“ leistet und ohne private Hilfsorganisationen aufgeschmissen wäre.

Laschet hört den "Aufschrei der Verzweifelten"

Laschet wusste vorher, dass er hier keine unbeschwerten Sommerbilder produzieren würde. „Ich habe erwartet, dass man an diesem Ort den Schrecken sieht, der in Europa Realität ist“, sagt Laschet. Er habe „den Aufschrei der Verzweifelten“ gehört. Man dürfe die griechische Regierung auch in Corona-Zeiten nicht mit dem Flüchtlingsproblem allein lassen. „Die ganze Europäische Union muss jetzt wach werden“, fordert Laschet. NRW will mit der Aufnahme von einigen kranken Flüchtlingskindern und ihren engsten Angehörigen zumindest symbolisch ein Zeichen setzen.


Die griechischen Behörden sind dankbar, dass sich Laschet einem Thema zuwendet, mit dem man in zuhause nicht punkten kann. Lesbos ist das Tor nach Europa; der Sehnsuchtsort für die dort Gestrandeten aber bleibt Deutschland. „Die Herausforderung ist zu groß für Griechenland allein“, lobt der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos das Engagement des deutschen Gastes.

Haben die Flüchtlinge in Laschet den "Primeminister of Germany" gesehen?

Nach den Tumulten von „Moria“ versucht Regierungssprecher Christian Wiermer zunächst unter den mitreisenden Journalisten zu streuen, die aufgebrachten Flüchtlinge hätten in dem NRW-Ministerpräsidenten den „Primeminister of Germany“ gesehen. Laschet selbst scheint das gar nicht recht zu sein. Die Menschen von „Moria“ hätten auch jeden anderen Politiker aus Europa zur Projektsfläche ihrer Hoffnungen gemacht, wiegelt er ab: „Wenn eine schwedische oder niederländische Delegation hier gewesen wäre, wäre der Aufschrei gleichermaßen gewesen.“

Die Griechenland-Reise soll bloß nicht noch weiter ins Fahrwasser der in Deutschland allgegenwärtigen Kanzlerkandidaten-Frage geraten. Laschet will an der Ägäis gewiss zeigen, dass er über den Tellerrand der Innenpolitik hinaus denkt und als künftiger CDU-Vorsitzender moralische Ansprüche an die deutsche Außenpolitik stellen würde. Einen Wettbewerb der plakativen Kanzler-Botschaften strebt er erkennbar nicht an. An einem Ort wie „Moria“ wäre der auch nicht zu gewinnen.