Essen. “Die Menschen haben die Schnauze voll, sagen die Landräte von Gütersloh und Warendorf. Viele Bürger dieser Kreise fühlen sich stigmatisiert.

Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern schicken Urlauber aus den Kreisen Gütersloh und Warendorf nach Hause, Hamburg will Besucher aus Ostwestfalen unter Quarantäne setzen. Und wer aus den beiden Landkreisen ins benachbarte Münster fährt, muss dort derzeit in der Öffentlichkeit Maske tragen: Der Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies wirkt sich folgenschwer auf die Reisefreiheit der Menschen aus Ostwestfalen aus. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die vor einer Ausgrenzung der Betroffenen warnen.

„Die Menschen haben die Schnauze voll“, wettern die Landräte der Kreise Warendorf und Gütersloh, Olaf Gericke und Sven-Georg Adenauer (beide CDU). „Die zunehmende Stigmatisierung unserer Bürger ist in unseren Augen eine Unverschämtheit“, so Gericke und Adenauer.

Adenauer: "Man könnte es für Satire halten"

Durch die geringe Infektionszahl in der übrigen Bevölkerung, also jenen, die keinen direkten Bezug zu dem Unternehmen Tönnies haben, seien beispielsweise Urlaubabsagen durch ganze Regionen nicht gerechtfertigt. „Grotesk“ finden die Landräte die Maskenpflicht in Münster. Adenauer: „Man könnte es für Satire halten, wenn es nicht so traurig wäre“

Fassungslos reagierte die grüne Bürgermeister-Kandidatin in Gütersloh, Gitte Trostmann, auf die Ausgrenzungen von Bürgern aus den beiden Landkreisen. „Ich habe Verständnis dafür, dass die Menschen in ganz Deutschland angesichts des großen Ausbruchs verunsichert sind. Was aber gar nicht geht, sind Angriffe auf Autos mit GT-Kennzeichen und pauschale Absagen für Urlaubsgäste“, sagte Trostmann. Zumindest mit negativen Testergebnissen müsse Urlaub möglich sein.

Hammer OB: "Wir grenzen keinen Nachbarn aus"

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann (CDU) sagte in einer Videobotschaft, in seiner Stadt würden Gäste aus den vom Coronaausbruch betroffenen Kreisen nicht benachteiligt. „Wir trauen diesen Menschen zu, dass sie sich ordnungsgemäß verhalten.“ Deshalb hält er eine Verordnung wie die in Münster „für falsch, nicht kontrollierbar und stigmatisierend.“ Laut Hunsteger-Petermann haben erste Veranstalter versucht, sogar Reisen von Bürgern aus Hamm zu stornieren wegen der Nähe zu den Lockdown-Landkreisen. Er bittet Betroffene, sich direkt an ihn zu wenden.

Kritik kommt auch aus dem Ruhrgebiet. „Ich kann verstehen, dass in anderen Teilen Deutschlands die Sorge vor einer neuen Infektionswelle wächst, die ihren Ursprung möglicherweise in NRW hat. Doch die Menschen rund um Gütersloh und Warendorf nun unter Generalverdacht zu stellen, ist schlicht nicht akzeptabel. “, sagte der Marler Bundestagsabgeordnete Michael Groß dieser Zeitung.

SPD kritisiert: "Lockdown kam viel zu spät"

Groß will schwere Versäumnisse der NRW-Landesregierung im Umgang mit dem Corona-Ausbruch bei Tönnies erkannt haben. „Das Land hätte die Schlachtbetriebe in NRW viel eher in den Blick nehmen müssen“, sagte der Sprecher der SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Ruhrgebiet. Ein weiterer Fehler sei die späte Verhängung des Lockdowns gewesen.

Die Ko-Vorsitzende der NRW-Grünen, Mona Neubaur, warf der schwarz-gelben Landesregierung sogar „Leichtfüßigkeit im Umgang mit dem Pandemie-Alltag in NRW“ vor. „Es fehlt weiterhin an einer landesweiten, kontinuierlichen Teststrategie“, sagte sie. Ausbaden müssten das nun die Ostwestfalen.

Neubaur forderte klare Regeln im Umgang mit möglichen weiteren Ausbrüchen. Es dürfe nicht zu einem Flickenteppich von Regelungen im Land kommen. „Das öffnet der Stigmatisierung Tür und Tor“, so die Grünen-Landeschefin. Das zeige das Beispiel der Maskenpflicht für Bewohner der betroffenen Kreise in Münster.

Ruhr-CDU-Chef Wittke: „Stigmatisierung verbietet sich. Punkt“

Auch Ruhr-CDU-Chef Oliver Wittke hält die Maßnahmen von Nachbarkreisen gegenüber Bürgern aus Gütersloh und Warendorf für eine Überreaktion. „Stigmatisierung verbietet sich. Punkt“, sagte der Bundestagsabgeordnete aus Gelsenkirchen. Der Corona-Ausbruch sei klar umgrenzt. Da könne man nicht einfach die Bevölkerung zweier Landkreise unter Verdacht stellen.

Wittke verwies auf die Hürden des lokalen Lockdowns. Bielefeld etwa gehöre nicht zum Kreis Gütersloh, liege aber näher am Corona -Ausbruchsort als manche kreiszugehörige Kommune. „Das Problem beim lokalen Lockdown besteht eben darin, Grenzen ziehen zu müssen. Und Grenzen sind mitunter ungerecht“, sagte Wittke.