Essen. Skandale in der Lebensmittelbranche empören viele, ihr Verhalten ändern aber nur wenige Verbraucher. Im Fall Tönnies könnte das anders werden.
Der Ernährungspsychologe Christoph Klotter (64) erklärt, warum sich der Mensch als Tierschützer verstehen kann und trotzdem billiges Fleisch isst und wieso der Corona-Ausbruch bei der Firma Tönnies dazu führen kann, dass Verbraucher ihr Verhalten verändern.
Prof. Klotter, wieso kaufen wir billiges Fleisch und sind dann empört über Arbeitsbedingungen wie im Fall Tönnies?
Christoph Klotter: Wir sind unglaublich erfolgreich im Verdrängen. Das gilt fürs Essen noch viel mehr als für andere Bereiche, weil Essen etwas ganz Elementares ist. Das wurde uns in der Corona-Krise gleich am Anfang noch einmal deutlich vor Augen geführt: Es gab plötzlich Hamsterkäufe, weil die Menschen tatsächlich Angst hatten, nicht mehr genug zu essen zu bekommen. Essen ist verbunden mit elementaren Ängsten. Und wenn wir Fleisch essen wollen, müssen wir Unangenehmes wegschieben.
Wir gehen Widersprüchen also aus dem Weg?
Absolut. Der amerikanische Psychologe George Kelly hat Mitte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt: Menschen denken in Konstrukten. Die können absolut widersprüchlich sein, aber für den Einzelnen sind sie stimmig. Heißt in diesem Fall: Man kann sich als Tierschützer verstehen und trotzdem ins Billigschnitzel beißen. Wir blenden den Widerspruch einfach aus.
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Ist es deshalb so schwierig, unser Essensverhalten zu ändern?
Auch. Vieles am Essen ist aber auch in Traditionen festgeschrieben, die fest in uns verankert sind. Deshalb klappen Verhaltensänderungen nur in langsamen Schritten. Aber sie finden durchaus statt. 2019 haben noch 33 Prozent der Männer in Deutschland angegeben, dass sie täglich Fleisch essen. 2020 waren es 25 Prozent.
Welchen Einfluss haben Skandale?
Die vergangenen Lebensmittelskandale haben nur einen geringen Einfluss gehabt. Die Empörung ist anfangs oft groß, auch die Sorge um die Gesundheit, aber das flacht nach einigen Monaten wieder ab. Verdrängung und Gewohnheit kommen dann wieder zum Tragen.
Wird es diesmal anders sein?
Das erwarte ich, ja. Wir sind in dieser Pandemie existenziell angegriffen. Wir spüren die Folgen des Corona-Virus in unserem täglichen Leben, wir sind mitten in der Krise. Über Wochen und Monate haben wir auf vieles verzichtet. Jetzt bedrohen die Zustände bei Tönnies unsere wiedererlangten Freiheiten. Das macht Veränderungen auch des eigenen Verhaltens leichter.
Der Journalist Michael Bröcker erwartet, dass der Corona-Ausbruch bei Tönnies wie ein „Fukushima-Moment“ der Fleischbranche sei, also die Kehrtwende bringe. Stimmen Sie zu?
Dieser Moment liegt eigentlich schon hinter uns. In der Lebensmittelbranche gibt es seit einigen Jahren eine stille Revolution. Aldi ist heute der größte Biohändler Deutschlands, Nachhaltigkeit ist das wiederkehrende Thema der Lebensmittelbranche. Die Firma Tönnies steht für eine vergangene Zeit. Sie ist ein Relikt, das es in zehn Jahren nicht mehr geben würde. Ein bisschen kann man das mit den großen Warenhäusern wie Kaufhof und Karstadt vergleichen. Sie sind nicht mehr zeitgemäß. Corona hat ihren Niedergang beschleunigt.
Tönnies ist aber der größte Fleischkonzern Deutschlands, er hat 2019 einen Milliardenumsatz gemacht.
Ja, aber der Konzern hat den Wandel verpasst. Große Lebensmittelkonzerne wie Nestlé richten sich gerade viel stärker in Richtung Nachhaltigkeit aus, Fleischkonzerne bieten inzwischen vegetarische Produkte an. Die Branche ist im Umbruch, der durch Corona nun verstärkt wird.
Wird Corona unsere Ernährung darüber hinaus verändern?
Ja, damit rechne ich. Gerade in der Anfangszeit haben viele erlebt, dass sie plötzlich wieder Zeit hatten, selbst zu kochen und zu backen. Diese Rückbesinnung auf die eigene Kompetenz in der Küche wird uns erhalten bleiben. Corona wird unsere Esskultur verändern.