Düsseldorf. Armin Laschet besucht den Corona-“Hotspot“ Gütersloh. Dramatische und unübersichtliche Entwicklung, aber noch kein harter Lockdown in Westfalen.

Der Kreis Gütersloh und angrenzende Regionen sind wegen der vielen Coronafälle in größten deutschen Schlachthof Tönnies im Alarmzustand. Am Sonntag besuchten NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (beide CDU) den Krisenstab im Kreis Gütersloh und viele Sanitäter, die zu Corona-Tests ausschwärmen. Der Ton ist ernst, die Lage gefährlich. Vorbei scheint die Zeit, in der die Landesregierung die Coronakrise vor allem als Lockerungsübung begriff.

Demonstranten rufen: "Deine Schlachterei ist moderne Sklaverei"

Tierschützer haben sich am Sonntag vor dem Kreishaus Gütersloh aufgebaut. Sie zeige Plakate, auf denen „Das System Tönnies stoppen“ steht und rufen „Tönnies, deine Schlachterei ist moderne Sklaverei!“. Armin Laschet redet mit den Demonstranten. „Jetzt“, sagt er, „ist der Zeitpunkt, die Zustände in der Fleischindustrie zu beenden.“ Die Gesellschaft habe viel zu lange nicht erkannt, wie schlimm es dort zugehe. Arbeitsminister Laumann kämpfe seit Jahren gegen diese Missstände, beteuert der Ministerpräsident. Die Protestierenden lassen sich nicht irritieren: Der Kampf gegen Fleischbarone wie Tönnies sei viel zu lasch.

Armin Laschet findet in diesen westfälischen Krisentagen wieder zu dem ernsten Auftreten zurück, das er im März zeigte, als die Coronakrise Fahrt aufnahm und er warnte: „Es geht um Leben und Tod."  Später gefiel sich der NRW-Ministerpräsident in der Rolle des fleißigsten Lockerers der Republik und versprühte Zuversicht, weil Schwimmbäder wieder öffnen und Erzieherinnen wieder die Kinder brgüßen durften. Aber von der „verantwortungsvollen Normalität“, die Laschet so gern betont, kann im Kreis Gütersloh nicht die Rede sein.

Krisenstab-Leiter: "Vertrauen in Firma Tönnies gleich null"

„Explodierende Zahlen“ von Corona-Infizierten gebe es im Kreisgebiet, sagt Laschet im Kreishaus-Foyer, wo die Rufe der Demonstranten nicht so laut sind. Ein flächendeckender Lockdown sei aber derzeit nicht nötig, weil das „Infektionsgeschehen klar auf einen einzelnen Betrieb lokalisierbar“ sei.

Gemeint ist Tönnies, ein Gigant der Fleischindustrie, der größte in Deutschland, dessen Ruf von Tag zu Tag neue Tiefstände erreicht. Am Wochenende erklärte der Gütersloher Krisenstab-Leiter Thomas Kuhlbusch bei einer Pressekonferenz, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen dem Stab und dem Unternehmen Tönnies ist. „Das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist gleich null. Das muss ich so deutlich sagen.“ Um ein Haar hätte Kuhlbusch „Familie“ und nicht „Firma Tönnies“ gesagt.

Firmenchef lehnt Rücktritt ab

Firmenboss Clemens Tönnies reagierte bei einer eigenen Pressekonferenz angesäuert auf die Vorwürfe, er habe den Behörden nicht schnell genug die Anschriften seiner Mitarbeiter genannt. Aus „Datenschutzgründen“ sei es ihm „eigentlich“ nicht möglich gewesen, die Adresse von bei Subunternehmen angestellten Werkvertragsarbeitern herauszurücken. Einen Rücktritt lehnte der Firmenchef am Wochenende ab.

Krisenstab und Landesregierung sind entsetzt, wie undurchsichtig die Wohnverhältnisse der mehrheitlich aus Rumänien, Polen und Bulgarien stammenden Werkvertragsarbeiter von Tönnies sind. Diese Menschen haben 1300 verschiedene Adressen. In den Kreisen Gütersloh, Warendorf, Soest, in Hamm und Bielefeld. Daher sei das Pandemierisiko in diesem Fall, im „bisher größten einzelnen Corona-Infektionsgeschehen in NRW“ so enorm, sagt Armin Laschet. Und er dringt darauf, dass die Quarantäne eingehalten wird.

Land sagt den osteuropäischen Arbeitern beste medizinische Hilfe zu

Die Konsuln von Polen, Rumänien und Bulgarien sagten gestern im Krisenstab Unterstützung zu, Dolmetscher werden zu den Arbeitern geschickt. Die Landesregierung garantiert den Tönnies-Beschäftigten beste medizinische Unterstützung. Sie will vermeiden, dass Arbeiter, die hohe Behandlungskosten befürchten, spontan in ihre Heimat reisen.

Unterdessen wird der Tonfall der Landesregierung gegenüber dem Umternehmen Tönnies immer rauer. „Wir werden überprüfen, ob es dort Verstöße gegen die Hygiene-, Gesundheits- und Arbeitsschutzvorschriften gab“, droht der Ministerpräsident. Sein Arbeits- und Gesundheitsminister setzt auf Druck und Zwang: „Mit der Fleischindustrie kann es keine freiwilligen Vereinbarungen geben“, wetterte Laumann. Und weil die Strukturen in den Schlachthöfen so unerhört undurchsichtig seien, könne es auch „kein Vertrauen“ geben. „Humaner“ müsse die Branche werden. Das heißt im Grunde, sie müsste sich neu erfinden.

Lockdown wäre den Menschen schwer vermittelbar

Hamms Oberbürgermeister Thomas Hunsteger-Petermann (CDU) befürchtet, die Menschen in Westfalen würden extrem empfindlich auf einen möglichen Lockdown reagieren. „Sie sind ja nicht die Schuldigen, die Schuld liegt allein bei Tönnies“, sagte er dieser Redaktion. Bei „Westfleisch“ in Hamm laufen in diesen Tagen erneut Massentests wie bei Tönnies. Der Unterschied zu dem Fleischgiganten in Ostwestfalen ist laut Hunsteger-Petermann: „Die Zusammenarbeit mit Westfleisch ist gut. Wir haben sofort die Adresslisten der Mitarbeiter bekommen.“

Sanitätssoldaten und ehrenamtliche Helfer des Roten Kreuzes und der Malteser trafen sich am Sonntag im Gütersloher Kreishaus, um die anstehenden Testungen zu planen. Sie schwärmten anschließend in Viererteams aus nach Gütersloh, Rheda-Wiedenbrück, Rietberg, Verl und Langenberg. Armin Laschet sagte den Helfern volle Unterstützung zu: „Benennen Sie, was Sie an Hilfe brauchen.“ Krisenmanagement ist angesagt. Lockerungen sind derzeit kein Thema.​