Düsseldorf. Ein halbes Jahr vor der Festnahme stellte die Polizei Missbrauchsmaterial beim einschlägig vorbestraften Tatverdächtigen fest. Nichts passierte.

Im Missbrauchsskandal von Münster geht die Opposition im Landtag Hinweisen auf eine Justiz-Panne nach. Konkret geht es um die Frage, ob der Hauptbeschuldigte Adrian V. möglicherweise schon ein halbes Jahr früher hätte inhaftiert werden können. Dann wäre es womöglich nicht vom 24. bis 26. April zu der vielfachen Vergewaltigung von Kindern in der inzwischen abgerissenen Gartenlaube der Mutter des 27-jährigen IT-Spezialisten gekommen.

„Mögliche Versäumnisse insbesondere bei den zuständigen Justizbehörden und Jugendämtern müssen restlos aufgeklärt werden“, forderte SPD-Innenexperte Hartmut Gantzke. Die langsame Reaktion der Behörden mache ihn „fassungslos“.

Hintergrund sind neue Details über die Abläufe der Ermittlungsarbeit, die NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch im Innenausschuss des Landtags öffentlich gemacht hat. Demnach habe die Kreispolizeibehörde Coesfeld bereits am 25. November 2019 die Staatsanwaltschaft Münster darüber informiert, dass auf einem I-Phone von Adrian V. rund 500 Fotos und Videos mit kinderpornografischem Material sichergestellt werden konnten. Es sei bei dem Hinweis an die Justiz darum gegangen, die Frage eines Widerrufs der Bewährungsstrafe zu klären, erläuterte Landeskriminaldirektor Dieter Schürmann.

Erst nach sechs Monaten konnte das Handy geknackt werden

Adrian V. war bereits 2016 und 2017 wegen Kinderpornografie zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden. Im Oktober 2019 wurde er zudem zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er im Keller seiner Lebensgefährtin mit abgezapftem Strom eine Computer-Anlage zur Gewinnung von Krypto-Währung (digitales Zahlungsmittel) betrieben hatte. Dieses Urteil des Amtsgerichts Münster war noch nicht rechtskräftig.

Trotz der schon im November 2019 neuerlich sichergestellten Missbrauchsabbildungen stellte die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Gericht aber keinen Antrag auf Widerruf der Bewährung. „Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür lagen und liegen noch nicht vor“, erklärte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Münster auf Anfrage. Es müsse feststehen, dass der Verurteilte eine neue Straftat begangen habe. Ein bloßer Verdacht reiche nicht aus. Die Staatsanwaltschaft Münster habe das Amtsgericht am 9. Dezember 2019 darüber informiert, dass gegen den Beschuldigten ein neues Verfahren geführt werde.

Ein Tauschnetzwerk im Internet brachte das LKA auf die Spur des Hauptbeschuldigten

Passiert ist daraufhin nichts. Adrian V. wurde erst in der Nacht vom 13. auf den 14. Mai 2020 festgenommen. Zu diesem Zeitpunkt kam sein zehnjähriger Stiefsohn, der offenbar über längere Zeit Opfer brutalster Sexualstraftaten geworden ist, in die Obhut des Jugendamtes in Münster. Grünen-Innenexpertin Verena Schäffer fragte, „warum der Hauptbeschuldigte trotz einschlägiger Verurteilungen noch Kontakt zu seinem Stiefsohn haben durfte“. Die Grünen haben nun eine gemeinsame Sitzung des Innen-, Rechts- und Familienausschusses im Landtag beantragt, damit das Zusammenwirken der Behörden in diesem monströsen Missbrauchsfall besser durchleuchtet werden kann.

Das Landeskriminalamt war dem pädophilen IT-Experten bereits 2018 über ein Tauschnetzwerk im Internet auf die Spur gekommen. Bei einer Hausdurchsuchung im Mai 2019 wurden ein I-Phone, ein I-Pad und mehrere speziell verschlüsselte Datenträger sichergestellt. Nach sechs Monaten gelang es dem LKA, zumindest das Mobiltelefon zu entsperren und dort erste kinderpornografische Materialien zu sichern. „Dabei ergaben sich aber keine Hinweise auf einen aktiven sexuellen Missbrauch von Kindern durch den Beschuldigten“, sagte Innenminister Reul. Zu diesem Zeitpunkt seien in Coesfeld von fünf Beamten weitere 50 Ermittlungsverfahren im Bereich Kinderpornografie bearbeitet worden. Es gebe „ein Gebirge aus Daten“, in dem man nach Gefahren für die Kinder priorisieren müsse. „Man muss damit ehrlich umgehen“, so Reul.

Der Kindesmissbrauchsfall Münster nimmt immer größere Ausmaße an. Inzwischen gibt es 18 Tatverdächtige, von denen sieben in Haft sind. Sechs Opfer im Kindesalter wurden bereits identifiziert. Eine 76-köpfige Ermittlungskommission untersucht 400 Terabyte Daten, was 520.000 Aktenschränken entspricht.