Essen. Eltern, Lehrer und Wissenschaftler befürchten Rückstände durch lange Schulschließungen. Benachteiligte Schüler sind davon besonders betroffen.

Nach den wochenlangen Schulschließungen befürchten Eltern, Lehrer und Bildungsforscher eine „Bildungslücke“ beim „Corona-Jahrgang“ 2020. Der versäumte Stoff könne nur schwerlich nachgeholt werden, die Bedingungen für das Lernen zu Hause seien sehr unterschiedlich. Über alle Schulformen hinweg seien „große Lücken in der Wissensvermittlung aufgerissen“, beklagt die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW.

Da ein normaler Unterricht vorerst kaum möglich sei, fordern die Gymnasialeltern Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) auf, einen „Masterplan“ für das kommende Schuljahr vorzulegen, um „massive Lücken in der Bildung und Ausbildung unserer Kinder“ zu verhindern. Dazu könne auch der Unterricht am Nachmittag oder an Samstagen gehören.

Konzept für das kommende Schuljahr gefordert

Rückendeckung erhält der Elternverband von der Erziehungswissenschaftlerin Birgit Eickelmann. Nach ihrer Einschätzung wird es im kommenden Schuljahr eine Kombination aus Präsenzunterricht und Lernen zu Hause geben. „Jetzt ist es am Ministerium, dafür die Grundlagen zu schaffen und Richtungen vorzugeben“, sagte die Expertin für digitale Lehre an der Uni Paderborn. Die Coronakrise vergrößere die bestehenden Ungleichheit zwischen Schulen und Schülern noch mehr.

Die 15-jährige Christine freute sich mächtig auf den ersten Schultag nach fast zwei Monaten. Doch am zweiten Tag erhielt die Freude schon wieder einen Dämpfer: Corona-Verdacht in der Schule. Wieder war Heimarbeit für die Gymnasiastin angesagt. So wie ihr ergeht es derzeit Tausenden Schülern in NRW. Haben sie nun schlechtere Chancen auf ein gutes Zeugnis? Droht einer ganzen Generation eine „Bildungslücke“? Schon steht die Forderung nach einem „Corona-Bonus“ für Abiturienten im Raum.

Für viele Eltern steht fest: So kann es nicht weitergehen. Auch im neuen Schuljahr werden die Schulen kaum wieder zur Normalität zurückfinden. Die Schulen fahren auf Sicht. „Als Konsequenz drohen massive Lücken in der Bildung und Ausbildung unserer Kinder, die nicht hinnehmbar sind“, befürchtet die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW. Es fehlten „eindeutige und für alle nachvollziehbare Konzepte und Maßnahmen“, um dies zu verhindern.

"Warum ich derzeit kein guter Lehrer sein kann"

Dominik Schöneberg möchte gerne ein guter Lehrer sein. Er unterrichtet Physik und Philosophie an einem Gymnasium in einer kleineren Stadt in NRW. Es sagt: „Aber derzeit kann ich kein guter Lehrer sein, trotz aller Mühe.“ Es mache einen riesigen Unterschied, ob Schüler direkt vor dem Lehrer sitzen oder weit weg in ihrem Kinderzimmer. „Wenn man seine Schüler kennt, genügt meist ein Blick ins Gesicht um zu sehen, wie es gerade läuft.“

In Corona-Zeiten fehle der direkte Kontakt, und vielen Lehrern sei es auch gar nicht möglich, diesen Kontakt aufrecht zu erhalten. „Als Nebenfach-Lehrer betreue ich derzeit über 140 Schüler. Es ist schlichtweg unmöglich, mit allen einzeln zu kommunizieren“, sagt der 39-jährige Pädagoge. „Um das klar zu sagen: Wir sind für den Fernunterricht nicht ausgebildet und haben darin keinerlei Erfahrung. Wir lernen gerade selber – größtenteils durch Trial and Error“. Versuch und Irrtum ist also derzeit das vorherrschende Prinzip in Corona-Zeiten.

Nur wenige Schulen habe eine IT-Vollausstattung

Hinzu kommen die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler. Manche würden durchgehend von ihren Eltern unterstützt. „Und es gibt Kinder, deren Eltern nicht per Email erreichbar sind oder die ihre Kinder eher vom Lernen abhalten, als sie zu fördern.“ Probleme bereite auch die IT-Ausstattung zu Hause. „Am besten kommen Schulen klar, deren Schüler über von der Schule angeschaffte Geräte verfügen.“

Eine vollständige Ausstattung mit Notebooks oder Tablets hätten aber nur die wenigsten Schulen in NRW. Somit schwanke die Ausstattung der Schüler, die Schöneberg betreuen soll, zwischen „gar kein Gerät“ und „Komplettausstattung mit Smartphone, Tablet, Notebook und Drucker“. Von gleichen Teilhabechancen sei dies weit entfernt.

"Bildungslücke" durch unterschiedliche Bedingungen

Auch von diesen Bedingungen hänge es ab, ob man später von einer „Bildungslücke“ des Jahrgangs 2020 sprechen müsse, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Birgit Eickelmann. „Wir groß die Lücken sind, wird man sehen müssen.“ Einigen Schulen sei es gut gelungen, die Zeit der Schließungen zu nutzen. „Vor allem Schulen, die digital unterwegs sind, haben hier weniger Lücken erzeugt als andere“, sagt die Expertin für digitale Lehre an der Uni Paderborn.

Eickelmann unterstützt den Appell der Landeselternschaft nach einem möglichst früh vorgelegten Konzept für das kommende Schuljahr: „Wichtig ist, dass man zum Schuljahresanfang reibungslos starten kann und zunächst die Lernstände der Schüler erfasst.“ Dazu müssten die Schulen auf verschiedene Szenarien vorbereitet sein. „Am wahrscheinlichsten scheint im Moment eine Kombination aus Präsenzunterricht und Lernen zu Hause.“ Noch vor den Sommerferien müsse das Ministerium dafür die Grundlagen schaffen.

Problem unterschiedlicher Bildungschancen verschärft sich

Also ist eine „Bildungslücke“ unabweisbar? Man solle die Kirche im Dorf lassen, rät Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). „Wegen einiger Wochen Unterrichtsausfall bricht das System nicht zusammen“, sagte er kürzlich dieser Redaktion. „Wir sollten aufhören so zu tun, als wären wir in einer Situation, die nicht lösbar ist.“

Sorgen mache er sich aber um Schüler, die zu Hause keine Unterstützung bekommen könnten. Hier drohe die wahre „Bildungslücke“. Das Problem sei aber seit Jahren bekannt. Die Coronakrise zeige nun wie unter einem Brennglas, dass die Bildungschancen sehr ungleich verteilt sind. „Corona darf nicht zum Katalysator für die Bildungsungerechtigkeit werden“, mahnte Beckmann.

"Die Schwächeren leiden am meisten"

Ähnlich sieht es auch der Mann aus der Praxis: Corona mache die Unterschiede bei der Ausstattung der Schulen, bei den Digitalkonzepten, der digitalen Vorbildung der Lehrer sowie bei der Herkunft der Schüler noch größer, meint Dominik Schöneberg: „Die Schwächeren leiden am meisten.“ (mit mako)

>>>> Zur Person

Der Physik- und Philosophie-Lehrer Dominik Schöneberg beschäftigt sich auch als Autor des Internet-Blogs „Bildungslücken“ mit den Problemen des Schulsystems. „Ich möchte damit auch ein Sprachrohr sein für andere Lehrer und meine Kritik am Schulsystem äußern. Letztlich geht es mir um die Schüler“, beschreibt er seine Motivation.