Düsseldorf. Kindesmissbrauch und Kinderpornografie werden in ganz neuen Strukturen und mit besseren Mitteln verfolgt. Das ist eine Lehre aus Lügde.
Als NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) vor genau einem Jahr den erfahrenen Kriminalpolizisten Ingo Wünsch zum Leiter einer neuen „Stabsstelle Kindesmissbrauch“ in der Spitze seines Hauses machte, hielt das mancher für einen politische Finte.
Die Landesregierung wurde damals durch den bundesweit beachteten Missbrauchsfall von Lügde durchgeschüttelt. Fehler von Polizei und Ämtern hatten wohl jahrelange Verbrechen an Kindern auf einem Campingplatz in Ostwestfalen begünstigt, auch wenn die Staatsanwaltschaft später alle Verfahren gegen Behördenmitarbeiter einstellte. Zahlreiche Ermittlungspannen der überforderten Landratsbehörde Detmold wurden öffentlich seziert. In solchen Situationen hält das Handbuch der Krisenkommunikation für Politiker den Rat bereit, mit neu einberufenen Arbeitskreisen Aktivität vorzutäuschen und ein brisantes Thema in die Kammer des Vergessens zu stoßen.
Umso überraschender, dass Reul jetzt am Donnerstag mit seiner „Stabsstelle Kindesmissbrauch“ bewusst die Öffentlichkeit suchte. Auch von der Corona-Krise ließ sich der Innenminister nicht davon abhalten, Landtag und Öffentlichkeit über den Abschlussbericht der Truppe um Kommissar Wünsch zu präsentieren. Die sei „kein Theorie-Papier“, versicherte Wünsch. Wenn man die 32 Seiten studiert, gewinnt man tatsächlich den Eindruck, dass die NRW-Polizei zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie in zwölf Monaten komplett neu aufgestellt wurde.
NRW-Polizei arbeitet künftig "wie ein virtuelles Großraumbüro"
Die NRW-Polizei arbeite künftig in diesem Deliktbereich „wie ein virtuelles Großraumbüro“, erklärte Wünsch. „Wir sind dadurch schneller im Erkennen von Missbrauch.“ Bislang habe sich die Bearbeitung auf die 47 Kreispolizeibehörden in NRW wie auf Inseln verteilt, die sich mit dünner Personaldecke und untauglicher Technik mühten. Oft in viel zu langen Verfahren und mit überschaubarem Erfolg.
Es sei in der Vergangenheit vernachlässigt worden, dass Kinderpornografie „das Auge in das Dunkelfeld des Missbrauchs ist“, bekannte Wünsch. 2019 gab es in NRW 2805 registrierte Fälle von Kindesmissbrauch in NRW, was einen Anstieg von knapp 16 Prozent zum Vorjahr bedeutete. Dies ist aber nur der sichtbare Schrecken, die tatsächliche Fallzahl dürfte weitaus höher sein. Was Heranwachsenden im sogenannten „sozialen Nahraum“ passiert, also bei Eltern, Nachbarn, Betreuern oder Verwandten, kann die Polizei meist nur über den Austausch der bei Verbrechen produzierten Kinderpornografie erkennen. Die Gefahr, die vom „unbekannten Täter, der aus dem Gebüsch springt“ ausgehe, sei dagegen weitaus geringer, erklärte Wünsch.
Die Gefahr für Kinder lauert im "sozialen Nahraum"
Die neue Polizei-Struktur sieht vor, dass Fälle von Missbrauch und Kinderpornografie in Großbehörden bearbeitet werden, die sonst Kapitalverbrechen verfolgen. Das Landeskriminalamt übernimmt zentral die Auswertung und Kategorisierung von kinderpornografischem Bildmaterial.
„Kinderpornografie hat künftig bei der Kripo den Stellenwert wie Mord. Für mich ist das auch so schlimm wie Mord“, sagte Minister Reul, der das Thema als „Chefsache“ behandelt wissen will. Wünsch durfte technisch aufrüsten, Personal deutlich aufstocken, Zuständigkeiten ändern. Zugleich soll die Polizei andere Deliktbereiche nicht vernachlässigen.
Reul wiederum muss weiterhin viel Geld aus dem Landeshaushalt besorgen und allerhand gesetzgeberische Hausaufgaben erledigen. Auf Bundesebene will er etwa durchsetzen, dass der Strafrahmen im Zusammenhang mit Kinderpornografie erhöht wird und Sexualstraftaten länger als drei Jahre im erweiterten Führungszeugnis bleiben. „Damit halten wir potenzielle Täter von Kindern fern“, sagte Wünsch. Reul will die Verbreitung von Kinderpornografie zur schweren Straftat hochstufen lassen, eine Meldepflicht für Internet-Provider einführen und die seit Jahren umkämpfte Vorratsdatenspeicherung doch noch erreichen. Nur damit könne man Tausenden konkreten Verdachtshinweisen der US-Behörden hierzulande endlich nachgehen.
NRW will zudem eine Aufklärungskampagne in Sozialen Netzwerken starten, um Jugendliche vor der Verbreitung von Kinderpornografie in Schüler-Chatgruppen zu warnen. Oft fehle das Bewusstsein, dass sie sich mit der Weiterverbreitung von Bildmaterial strafbar und andere Kinder zu Opfern machten. Der Anteil der jugendlichen Tatverdächtigen im Bereich Kinderpornografie ist in NRW von 16 Prozent (2017) auf 38 Prozent (2019) rasant angestiegen.