Essen. Die Corona-Krise stellt die Christen auf eine harte Probe. Sie können das Osterfest nicht gemeinsam in den Gotteshäusern feiern.

Das hat es in der Geschichte des Christentums noch nicht gegeben: Wegen der Corona-Krise können die Gläubigen sogar an den Ostertagen keine gemeinsamen Gottesdienste feiern. Wir haben mit Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, über Nöte, Hoffnungen und besondere Herausforderungen gesprochen.

Frage: In schwierigen Zeiten suchen die Menschen Trost bei Gott. Wie sollen sie ihn finden, wenn die Gotteshäuser verschlossen sind?

Heinrich Bedford-Strohm: Natürlich ist es sehr schmerzlich für uns, dass wir den Gottesdienst momentan nicht in unseren vertrauten Kirchen feiern können. Das gilt in der Osterzeit ganz besonders. Aber wir nutzen viele andere Kanäle, um Gemeinschaft möglich zu machen und den Menschen die Botschaft des Evangeliums nahe zu bringen.

Wir machen gerade ermutigende Erfahrungen: Die Einschaltquoten von Fernseh- und Radio-Gottesdiensten sind in die Höhe geschnellt. Zudem entwickeln wir neue Formate, zum Beispiel Livestream-Gottesdienste. Die Gemeinden erreichen mit kreativen Ideen auch Gläubige, die nicht über die notwendigen technischen Möglichkeiten verfügen. Auch das gute, alte Telefon spielt wieder eine wichtige Rolle. Zeichen der Verbundenheit lassen sich auf vielfältige Art setzen.

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„Heiliger Geist ist nicht an geografische Orte gebunden“

Glaube ist Gemeinschaft. Gemeinschaft am Fernsehgerät oder am Tablett ist schwierig, oder?

Selbstverständlich vermissen wir die physische Präsenz der Gottesdienstteilnehmer in unseren Kirchen sehr, die herzliche Umarmung und den Händedruck am Ausgang nach dem Gottesdienst. Aber auch über andere Formate können wir verbunden sein. Der Heilige Geist ist nicht an geografische Orte gebunden. Ostern fällt nicht aus; wir werden kraftvoll Ostern feiern.

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Würden Sie im Traum auf die Idee kommen, gegen das Gottesdienst-Verbot zu klagen?

Auf keinen Fall. Eine einzelne katholische Gemeinde in Berlin hat das getan. Dem widerspreche ich entschieden. Denn man muss sich immer klar machen, dass es bei den Maßnahmen, die die Politik nach gründlicher Überlegung und Beratung mit Experten verhängt hat, um die Rettung von Menschenleben geht. Vor allem Schwache und Verletzliche sollen geschützt werden. Wir wollen die Bilder aus New York bei uns verhindern, die zeigen, wie Leichen mit Gabelstaplern auf Kühllaster geladen werden.

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Wir befinden uns in einer der schlimmsten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Woher nehmen Sie persönlich Ihre Zuversicht?

Wir erleben die Passionszeit gerade quasi am eigenen Leib. Die Menschen machen jetzt die Erfahrungen, die Jesus selbst gemacht hat. Er hat Angst gehabt und gebetet: Vater, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen. Am Kreuz hat er geschrien: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Diese Gefühle von Gottverlassenheit spüren im Moment viele Menschen, die um ihre Lieben bangen oder auf den Intensivstationen selbst mit dem Tod kämpfen.

Das sind extreme Abgrund-Erfahrungen, die uns ganz direkt mit Jesus in Verbindung bringen. Wann also könnte diese Botschaft wichtiger und ausstrahlungskräftiger sein als in diesen Zeiten: Der Tod hat nicht das letzte Wort, sondern das Leben siegt. Jesus ist auferstanden. Wir haben keinen Gott, der über der Welt thront, sondern wir glauben an einen mitfühlenden, mitleidenden Gott. Gott hat nicht auf den Corona-Knopf gedrückt. Er will das Leben. Deswegen ist es falsch, Gott als Verursacher hinter der Ausbreitung des Virus zu sehen.

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Wer behauptet das denn?

In den sozialen Netzwerken tauchen bisweilen solche abstrusen Theorien, auf die Corona als eine Strafe Gottes bezeichnen.

„Deutschland darf sich nicht weigern, Flüchtlinge aufzunehmen“

Corona überstrahlt alles. Welche anderen Krisen verlieren wir gerade aus den Augen?

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Eine unerträgliche Situation, die durch die Krise auch noch verschärft wird, gibt es gerade auf Lesbos. Dort hausen 20.000 Menschen unter schlimmsten hygienischen Bedingungen in einem Lager, das für 3000 Bewohner ausgelegt ist. Diese Menschen müssen schnellstens evakuiert und menschenwürdig untergebracht werden. Das haben wir schon vor der Krise gefordert. Jetzt ist die Situation noch viel dramatischer.

Wenn dieses Virus auch dort ausbricht, stehen wir vor einer humanitären Katastrophe auf europäischem Boden, die auch durch das Nichthandeln der Staaten Europas verursacht wurde. Die Bundesregierung muss jetzt schnell mindestens die 1500 Kinder und Jugendlichen da rauszuholen, auf die sich die politischen Entscheider schon längst geeinigt hatten. Ich hoffe sehr, dass diese Forderung endlich gehört wird.

Die Ankündigung, 50 Kinder aufnehmen zu wollen, ist ein erster richtiger Schritt, um endlich wieder auf die Handlungsebene zu kommen. Deutschland darf sich nicht länger darauf berufen, erst handeln zu können, wenn ganz Europa handelt. Wir müssen helfen, auch wenn andere sich weigern.

Krise als Türöffner für ein bewussteres Leben

Sehen Sie auch Lichtblicke?

Diese Krise kann ein Türöffner sein für ein bewussteres Leben. Wenn ich weiß, dass mein Leben endlich ist, dann nehme ich jeden Tag umso dankbarer an. Dann sage ich die schönsten Dinge über andere auch nicht erst bei der Grabrede, sondern zu ihren Lebzeiten. Zudem nehme ich in Deutschland sehr dankbar wahr, dass wir eine Revolution des Mitgefühls erleben.

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Menschen helfen, machen Hilfsangebote – und zwar freiwillig. Wir halten zusammen. Außerdem gibt es in der Bevölkerung eine sehr große Bereitschaft, sich an die notwendigen Auflagen zu halten. Das beweist: Die Mehrheit ist bereit, viel aufzugeben, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, nämlich die Schwachen und Verletzlichen zu schützen. Wir stehen uns gegenseitig bei. Ich habe die Hoffnung, dass wir uns später daran erinnern werden.

Was meinen Sie damit konkret?

Es ist wichtig, sich jetzt auf Solidaritätsanstrengungen nach der Krise vorzubereiten. Alle, denen es materiell gut geht, sollten bereit sein, die Lasten der Krise mitzutragen. Denn es ist einfach ungerecht, dass Menschen nun schuldlos vor dem Nichts stehen. Und ich hoffe sehr, dass diese Solidarität nicht an den Grenzen unseres eigenen Landes und an den Grenzen Europas Halt macht. Wir müssen auch als Land bereit sein, diese Lasten mitzutragen. Dafür werden wir uns als Kirchen einsetzen. Glück wird größer, wenn man es teilt, Liebe wird größer, wenn man sie teilt.