Düsseldorf. Gegen das Coronavirus ist das menschliche Immunsystem bislang machtlos, erklärt der Virologe Jörg Timm. Das macht es gefährlicher als die Grippe.

Schulen werden geschlossen, Großveranstaltungen werden abgesagt, Messen verschoben, Fußball wird zum „Geisterspiel“ und ganz Italien erklärt sich zum Risikogebiet – viele Menschen fragen sich, ob das verhältnismäßig ist. Denn während einer Grippesaison ist von solchen Maßnahmen keine Rede. Dabei sind seit Herbst 2019 nach Angaben des Robert-Koch-Instituts bis heute 18.862 Menschen an der Grippe erkrankt, 202 Patienten starben. Prof. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Düsseldorf, erläutert im Gespräch mit Christopher Onkelbach, warum das Coronavirus nach heutigem Wissensstand dennoch gefährlicher ist.

Worin unterscheidet sich das Coronavirus Sars-CoV-2 von Grippeviren?

Prof. Jörg Timm leitet das Institut für Virologie an der Universitätsklinik Düsseldorf.
Prof. Jörg Timm leitet das Institut für Virologie an der Universitätsklinik Düsseldorf. © dpa | Foto: Federico Gambarini

Jörg Timm: Zunächst einmal sind das komplett unterschiedliche Viren. Aber der Hauptunterschied ist: Was die Gefahrenlage angeht, haben wir bei der Influenza sehr gute Daten und ein erprobtes Netzwerk. Zudem gibt es einen Impfstoff, der vor allem die Risikogruppen schützen kann. Und es gibt eine etablierte Behandlung mit antiviralen Mitteln. Beim Coronavirus fehlt dies alles, da sind wir noch in einer Lernkurve.

Welche Gemeinsamkeiten gibt es?

Die Übertragungswege sind ähnlich und auch das Tempo der Ausbreitung scheint vergleichbar zu sein. Allerdings ist die Schwere der Erkrankung offenbar größer als bei der üblichen saisonalen Grippe.

Ist das Coronavirus ansteckender als das Grippevirus?

Das Ansteckungsrisiko hat eine ähnliche Größenordnung. Wir sprechen von der Basisreproduktionsrate. Sie besagt, wie viele Personen durch einen Infizierten angesteckt werden. Bei einer Influenza sind es im Schnitt zwei, bei Corona zwischen zwei und drei Personen. Das erscheint nicht viel, macht in der Realität aber einen großen Unterschied aus, was die Dynamik der Verbreitung angeht. Doch mit diesen Zahlen muss man vorsichtig sein, sie sind sehr schwer zu ermitteln.

Wo liegt das Problem?

Man müsste für belastbare Daten jeden erfassen, der sich infiziert hat. Doch viele stecken sich an und bleiben komplett ohne Symptome. Studien gehen davon aus, dass knapp 60 Prozent nichts oder wenig von ihrer Infektion bemerken.

Ist das menschliche Immunsystem mit dem neuen Virus überfordert?

Wenn ein neues Virus auftaucht, gibt es in der Bevölkerung noch keinerlei Immunität. Das bedeutet, das Virus hat zunächst völlig freie Bahn und vermehrt sich rasant. Gegen Influenzaviren gibt es in der Bevölkerung schon Antikörper, was die Ausbreitung hemmt. Wie gut das Immunsystem das Virus bekämpfen kann, hängt auch von den Eigenschaften des Virus selbst ab. Wo dockt es an der menschlichen Zelle an? Offenbar betrifft es eher die tieferen Atemwege. Das würde bedeuten, dass eine Übertragung schwieriger wäre. Viele Fragen sind noch offen.

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Werden sich tatsächlich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung anstecken?

Es ist problematisch, mit solchen Zahlen zu arbeiten. Das sind Modellrechnungen, doch auf solche Szenarien müssen wir vorbereitet sein. Und das machen wir jetzt auch. Wenn es anders kommt, umso besser. Doch Heinsberg hat gezeigt, wie schnell und breit sich das Virus verbreiten kann.

Ist das Coronavirus tödlicher als die Grippe?

Das Risiko ist noch schwer zu beziffern. Die Sterblichkeitsraten sind derzeit noch vergleichbar, doch auch die Zahlen hinter dem Komma bedeuten bei der Menge an Infektionen schon viele Menschenleben. Die Gefahr ist offenbar größer als bei einer saisonalen Grippe – und auch diese wird leider oft unterschätzt.

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Müssen wir ab jetzt mit einer jährlichen Corona-Welle rechnen?

Das Virus kann mutieren, doch eine Infektionswelle wie diese wird sich so vermutlich nicht wiederholen. Es werden sich Antikörper bilden, die vor schweren Krankheitsverläufen schützen und die Ausbreitungsdynamik bremsen. Zudem werden wir über Impfstoffe verfügen. Es ist aber denkbar, dass Corona in den nächsten Jahren immer wieder eine Rolle spielt.

>>>> Das Coronavirus

Die Aufnahme eines Elektronenmikroskops zeigt das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2.
Die Aufnahme eines Elektronenmikroskops zeigt das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2. © dpa

Coronaviren sind eine Virusfamilie, zu der auch das derzeit weltweit grassierende Virus gehört. Die Weltgesundheits-Organisation (WHO) gab dem Virus den Namen Sars-CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome-Coronavirus-2). Damit ist das Virus gemeint, das Symptome verursachen kann aber nicht muss.

Die durch Sars CoV-2 ausgelöste Atemwegserkrankung wurde Covid-19 (Coronavirus-Disease-2019) genannt. Covid-19-Patienten sind Personen, die das Virus Sars-CoV-2 in sich tragen und die entsprechenden Krankheitssymptome zeigen.