Essen/Dortmund. Die Datenflut im Internet verändert die Gesellschaft, meint der Dortmunder Soziologe Johannes Weyer. Wie, das erläutert er in seinem neuen Buch.
Die Digitalisierung hat das Verhältnis der Menschen zu Zeit und Raum grundlegend verändert, sagt der Dortmunder Soziologe Johannes Weyer. Der Professor der TU Dortmund spricht längst von einer „Echtzeitgesellschaft“, in der wir angekommen sind. Ein Gespräch über Chancen und Risiken der neuen Datenwelt, den flüchtigen Ruhm von Google & Co und die Aufgaben der Politik.
Warum sprechen Sie von Echtzeitgesellschaft?
Johannes Weyer: Der Begriff der Informationsgesellschaft, den man lange benutzt hat, um das postindustrielle Zeitalter zu beschreiben, ist nicht mehr zutreffend. Seit die Informationen mobil geworden sind, hat sich etwas Grundlegendes geändert. Ob Fahrkartenkauf, Routenplanung oder Buchausleihe - wir erledigen heute viele Dinge in Echtzeit, passen unser Verhalten an die technischen Möglichkeiten an. Die Digitalisierung durchdringt unser Leben. Das hat weitreichende Folgen. Wenn der Wind über der Nordsee abflaut, bekomme ich in Echtzeit ein Signal, dass ich mein E-Auto nicht aufladen soll.
Was hat sich verändert?
Die Echtzeitgesellschaft stellt eine enorme Beschleunigung und Verdichtung des Lebens und der Arbeitswelt dar. Informationen sind jederzeit und - was wichtig ist - überall verfügbar. Außerdem können sie von Maschinen in Echtzeit verarbeitet werden. Das ist ein qualitativer Sprung so wie einst der vom Industrie- ins Informationszeitalter.
Die digitale Gesellschaft im Blick des Soziologen
In seinem Buch „Die Echtzeitgesellschaft - wie smarte Technik unser Leben steuert“ (Campus-Verlag, 194 Seiten) analysiert Johannes Weyer die Digitalisierung und ihre Auswirkungen aus dem Blickwinkel des Soziologen. Neben anschaulichen Beispielen für die Verdichtung von Alltag und Beruf durch die neue Datenwelt stellt der Dortmunder unter anderem auch seine Forschungsmethoden vor. In einem eigenen Kapitel widmet er sich der Politik in der Echtzeitgesellschaft. Johannes Weyer ist Professor für Techniksoziologie an der TU Dortmund.
In ihrem Buch beschreiben Sie, wie Mensch und Technik im Echtzeitmodus funktionieren. Was bedeutet das?
Früher waren Daten, zum Beispiel aus Befragungen, schon kurze Zeit später nicht mehr aktuell. Heute fallen gewissermaßen als Abfallprodukt Unmengen digitaler Verhaltensdaten an und es ist so möglich, Rückschlüsse auf das reale Verhalten unzähliger Menschen zu ziehen und ein Lagebild in Echtzeit herzustellen. Das hat natürlich Vorteile für diejenigen, die die Daten sammeln, wie die großen Online-Firmen. Aber auch jeder einzelne kann profitieren, wie man bei der Stauwarnung im Navi sieht.
Warum ist die Digitalisierung ein Fall für die Soziologie?
Wir haben ein neues Potenzial, komplexe Systeme zu steuern, die bislang als nicht steuerbar galten. Das ist nicht nur eine Frage für die technische Forschung. Denn wir bekommen diese Systeme heute in den Griff, ohne dass es eines diktatorischen Eingriffs bedarf. Das ist soziologisch hochinteressant. Ein Beispiel: Die Energie- und Verkehrswende ist ohne die Digitalisierung nicht zu schaffen. Mit Apps kann man das Verhalten der Menschen so beeinflussen, dass sie ohne Zwang in der Summe weniger CO2 produzieren. Wir werden gesteuert, aber wir verlieren unsere Autonomie nicht. Das ist für eine demokratische Gesellschaft wichtig.
Man hat den Eindruck, dass wir uns der technischen Entwicklung nicht entziehen können, selbst wenn wir es wollten. Stimmt das?
Der technische Wandel fällt nicht vom Himmel. Technik wird von Menschen gemacht. Es gibt immer wieder Schlüsselentscheidungen für oder gegen eine bestimmte Technik. Wir sprechen hier von einer sozialen Logik der Technik. Nichts dabei ist alternativlos. Kurz nach der Erfindung des Automobils sprach vieles für den Elektromotor. Trotzdem setzte sich durch eine Allianz verschiedener Interessensgruppen der Verbrennungsmotor durch. Den Siegeszug des Smartphones läutete Steve Jobs mit dem IPhone ein. Der Apple-Gründer hatte damit die Bedürfnisse der Menschen getroffen. Aber das ist kein Schicksal, sondern das Ergebnis sozialer Prozesse.
Sind wir bereit für die Echtzeitgesellschaft?
Zumindest dürfen wir nicht kopflos in sie hineinsteuern. Man braucht Vertrauen und eine Sicherheitskultur, die den Umgang mit intelligenter Technik einübt. Die Tendenz heute ist, sich immer mehr allein auf die Technik zu verlassen in der irrigen Annahme, sie sei dem Menschen überlegen. Man muss aber Mensch und Technik zusammendenken. Der Einzelne kann versagen, die Technik kann versagen. Ziel muss es aber sein, Systeme so zu organisieren, dass sich kleine Fehler nicht zu großen Katastrophen aufschaukeln, wie es etwa leider immer wieder bei Flugzeugunglücken passiert.
Sie haben in ihrem Buch Flugzeugkatastrophen analysiert. Warum?
Flugzeuge sind Systeme, die schon länger in Echtzeit operieren. Während eines Fluges können Sie ja nicht einfach anhalten und nachschauen, ob etwas nicht stimmt, sondern müssen sofort reagieren. Beim tragischen Absturz der Air France-Maschine über dem Atlantik vor elf Jahren verließ sich die Crew blind auf den Bordcomputer und steuerte das Flugzeug über die Gewitterfront hinweg, statt einfach hindurch zu fliegen, was sie durchaus hätte meistern können. In der großen Höhe kam es dann zum fatalen Strömungsabriss. Auch im Falle der nuklearen Katastrophe von Fukushima fehlte ein angemessenes Risikomanagement. Der Betreiber der Anlage war auf das Katastrophenszenario technisch und personell nicht vorbereitet.
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Was erwarten Sie von der Politik?
Die Politik darf die Echtzeitgesellschaft nicht den Digitalkonzernen überlassen. Sie muss den großen Anbietern gesetzliche Rahmen setzen, aber eine Feinsteuerung etwa im Datenschutz halte ich nicht mehr für möglich. Dafür sind die Systeme einfach schon zu komplex und die Datenmengen zu gigantisch.
Muss man nicht trotzdem gegensteuern? Die Macht über unsere Daten haben nur einige wenige Internetgiganten überwiegend aus den USA.
Daten sind der neue Rohstoff, das ist richtig. Aber das neue Kapital heißt Vertrauen. Ohne Vertrauen würde es selbst für die Internet-Giganten schwierig.
Sie halten einen Niedergang von Google und Co für möglich?
Der Ruhm von Google, Apple und Co ist flüchtig, ihre Macht vergänglich. Ich wage keine Prognose, ob es Google in zehn Jahren noch gibt. Tritt ein ernsthafter Konkurrent auf den Plan, etwa weil sich große europäische Medienanbieter zusammentun und eine gemeinsame Online-Plattform gründen, dann genügt ein spektakulärer Daten-Skandal bei Google und die Nutzer laufen davon. Sie hätten ja eine Alternative. Erinnern Sie sich noch an StudiVZ? Das war einmal das größte soziale Netzwerk in Deutschland. Innerhalb von nur zwei Jahren ist es zugrunde gegangen.
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