Dorsten. Klimaschutz und altergerechtes Wohnen: Die NRW-Grünen umwerben strategisch geschickt Alte und Junge. Der SPD können sie sehr gefährlich werden.

Es ist noch nicht lange her, da lagen die Grünen am Boden. Magere 6,4 Prozent der Stimmen fuhr die Partei im Mai 2017 ein. Vom Wähler abgewatscht und die Opposition geschickt, machten sich die Grünen an den Wiederaufstieg. Mit beachtlichen Fortschritten. Manches deutet sogar darauf hin, dass die Grünen die SPD als linke Führungskraft in NRW ablösen könnten. Warum, war am Wochenende beim Parteitag in Dorsten zu sehen.

Ökologisch, basisdemokratisch, pazifistisch, rebellisch. So kamen die Grünen vor 40 Jahren daher. Von der Ur-DNA haben sie immer noch was im Blut, aber heute geht ihre Reise Richtung Partei für alle. Grünen-Landesvorsitzender Felix Banaszak, ein junger Sozialpolitiker, nahm am Wochenende in Dorsten besonders die Älteren in den Blick: „Es ist uns nicht egal, was Menschen jenseits der 55 an Möglichkeiten vorfinden“, rief der 30-jährige Duisburger den Delegierten zu.

Teilhabe oder gefesselt in der Wohnung?

Pflegebedürftige, Senioren, Rentner benötigten mehr Freizeit- und Gesundheitsangebote in ihrer Nähe. Kann ich am Leben teilnehmen, oder bin ich gefesselt in meiner Wohnung? Solche Fragen treiben viele Ruheständler um, glauben die Grünen. „Selbstbestimmung ist eine grüne Interpretation des Freiheitsbegriffs“, philosophierte Banaszak. Man dürfe nicht von den Kräften des Marktes her denken, sondern von den Bedürfnissen der Menschen – ein Satz, den man sonst bei Linken und SPD verortet.

Abgesehen von der Aufregung über Thüringen bespielten die NRW-Grünen bei ihrem Treffen im früheren Trafogebäude der Zeche Fürst Leopold in Dorsten nur zwei Themen, die ihnen Energie für kommende Wahlkämpfe spenden sollen. Eines war erwartbar: Klimaschutz. Das andere ist noch etwas exotisch für diese Partei: Selbstbestimmtes Leben im Alter. Damit wildern die Grünen nun verstärkt in Gefilden, in denen SPD und CDU unterwegs sind.

"Wir wollen die führende Kraft im Mitte-Links-Spektrum sein"

Angesichts von Umfragewerten von mehr als 20 Prozent in NRW ist die Zeit der Bescheidenheit nämlich vorbei. „Wir wollen die führende Kraft im Mitte-Links-Spektrum sein“, sagte Banaszak am Rande des Parteitags dieser Redaktion. Heißt: Wir wollen die SPD überholen.

Ist das realistisch? Der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann glaubt, ja. „Im Vergleich zur SPD sind die Grünen die stärkere und jüngere Kraft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Grünen die SPD auch in NRW ersetzen“, sagte von Alemann dieser Redaktion. Die SPD habe derzeit keinen „Menschenfänger“, um als Alternative wahrgenommen zu werden. Die Grünen seien hingegen „hier in NRW wie bundesweit schon fast eine Volkspartei der linken Mitte, erfolgreich als Oppositions- und Regierungspartei“, so der Professor.

"Blassgrün" zieht besser als "Rot pur"

Dabei schätzt von Alemann die NRW-Grünen im Vergleich zu Grünen-Landesverbänden wie Baden-Württemberg nur als „blassgrün“ ein: „Ihre Vorsitzenden Mona Neubaur und Felix Banaszak sind bei weitem nicht so bekannt wie Winfried Kretschmann, Annalena Baerbock oder Robert Habeck.“ Dennoch gelinge es auch der Partei in NRW, „auf der bundesweiten Erfolgswelle der Grünen mit zu surfen“. „Blassgrün“ ziehe offenbar derzeit besser als das „Rot pur“ der SPD.

Der Politologe erkennt auch strategische Schwächen bei den bisherigen Volksparteien: „CDU und SPD kümmern sich überproportional um die Zukunft der Bergleute im Rheinischen Revier. Milliarden Euro fließen in die Bewältigung des Kohleausstiegs“. Die Kumpel hätten zwar einen hohen Symbolwert, aber Beschäftigte in anderen Branchen, zum Beispiel im Einzelhandel, seien in vergleichbaren Situationen, und um die kümmere sich die Politik kaum, sagte von Alemann.

Wie „sozialdemokratisch“ Grüne reden können, machte auch der frühere Grünen-Landesvorsitzende Sven Lehmann in Dorsten vor. Immer mehr Menschen seien auf die Tafeln angewiesen, immer mehr fänden keine Wohnung. „Wir dürfen uns daran nicht gewöhnen“, sagte der Bundestagsabgeordnete aus Köln.

Solidarität mit Demonstranten in Erfurt

Nach der Wahl eines FDP-Kandidaten mit Stimmen der AfD in Thüringen sehen sich die NRW-Grünen in der Rolle, die Demokratie zu verteidigen. Die Ereignisse in Thüringen seien ein „nicht vorstellbarer Dammbruch, weil der Faschist Björn Höcke als Sieger vom Platz geht“, sagte die Grünen-Landesvorsitzende Mona Neubaur. Die Delegierten erhoben sich („Aufstehen für die Demokratie“) und zeigten sich mit Demonstranten solidarisch, die in Erfurt protestierten.