Dortmund/Herdecke. Menschen jenseits der 50 verabreden sich in über 300 Gruppen der Initiative „Zwischen Arbeit und Ruhestand“. Nun droht dem Projekt das Aus.
Die Sonntage waren für Henriette Gierse (80) das Schlimmste. Dann wurde sie von der Einsamkeit erdrückt.
Erst zog sie vom Sauerland ins Ruhrgebiet, „ich musste neu anfangen, wo ich niemanden kannte“, sagt die Neu-Herdeckerin. Dann starb auch noch ihr Ehemann. „Ich stand ohne jemanden da.“ Bis die frühere Modistin beiläufig von der Herdecker Gruppe der Initiative „Zwischen Arbeit und Ruhestand“ (ZWAR) erfuhr. Alle 14 Tage treffen sich hier fast 100 Menschen über 55 Jahre, um sich zum Kegeln, Meditieren oder Singen zu verabreden. „ZWAR habe ich zu verdanken, dass ich nicht alleine bin“, sagt sie. Nur steht die Initiative jetzt NRW-weit vor dem Aus.
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Nur noch bis März ist Zeit. „Bis dahin reichen die restliche Spendengelder, um unsere Zentrale in Dortmund am Leben zu halten“, sagt Geschäftsführer Marc Bagusch. Das NRW-Sozialministerium hat sich mit dem Jahreswechsel komplett aus der Finanzierung zurückgezogen. Öffnet sich bis März keine neue Geldquelle, können die über 300 ZWAR-Gruppen mit über 10.000 Aktiven nicht mehr betreut werden. „Aber ich bin ein Kämpfertyp“, sagt Bagusch (40).
Land: Förderung von Seniorengruppen ist Aufgabe der Städte
Ihr erhoffter Retter ist so alt wie die Initiative selbst: 1979 wurde das ZWAR-Konzept an der Uni-Dortmund entwickelt. Frauen und Männer jenseits der 50 sollten sich selbst in Gruppen organisieren, um nach dem Ruhestand auf ein intaktes soziales Netz zurückgreifen zu können. Besonders früh verrentete Stahl- und Bergbauarbeiter sollten profitieren. Auch das Land war vom Konzept überzeugt – und stieg 1984 bei der Finanzierung ein. „Es hatte lange niemand damit gerechnet, dass sich das mal ändern sollte,“ gibt Marc Bagusch zu.
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2018 kündigte Karl-Josef Laumann (CDU) an, ZWAR fallenlassen zu wollen. Die damalige Kernbegründung: Die Leitstelle erfülle ihre Vorgaben nicht und treibe die Gründung neuer lokaler Gruppen nicht engagiert genug voran. Guntram Schneider, der Anfang 2020 verstorbene Ex-SPD-Landesarbeitsminister und damalige Vorsitzende des ZWAR-Trägervereins, konnte Laumann zu einer weiteren Finanzierung für 2019 überreden. 2020 sollte aber endgültig Schluss sein – „weil es sich bei der Förderung kleinräumiger Seniorengruppen, die sich zu gemeinschaftlichen Aktivitäten treffen, um eine kommunale Aufgabe handelt“, argumentiert Laumanns Ministerium.
SPD: Zerschlagung von ZWAR ist „unklug und schlimm“
Für die Grünen in NRW ist die kommunale Zuständigkeit ein vorgeschobenes Argument – andernfalls hätte das Land das Netzwerk nicht seit Jahren fördern dürfen, betont Felix Banaszak, Vorsitzender in NRW. „Minister Laumann erteilt der Prävention und der Hilfe zur Selbsthilfe eine klare Absage und legt die Axt an die offene Altenhilfe“, sagte der Grünen-Chef. „Schwarz-Gelb zerstört ohne Not und erkennbaren Grund seit Jahren gewachsene Netzwerke, in denen sich Menschen selbstbestimmt organisieren.“ Kritik kommt auch von der SPD-Fraktion. Josef Neumann, sozialpolitischer Sprecher der Sozialdemokraten, nannte es „unklug und schlimm, wenn quartiersbezogene gute Beispiele zur Prävention und zur Überwindung von Altersisolation wie ZWAR unnötig zerschlagen werden“.
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Bei ZWAR selbst kann man Laumanns Härte auch deshalb nicht verstehen, weil man sich bemüht habe, die Zentrale „wirtschaftlicher zu führen“, sagt Marc Bagusch, der als Unternehmensberater aus der Privatwirtschaft kommt. Zudem habe man mit neuen Projekten genau ansetzen wollen, wo das Land seine Förderprioritäten sieht: Über den Landesförderplan für Alter und Pflege sollen als Fokus Projekte unterstützt werden, die Zugänge zu digitaler Technik für Senioren ermöglichen. „Wir haben mehrere solcher Projekte eingereicht“, sagt Bagusch. „Alle wurde abgelehnt.“
Petition mit 10.850 Unterschriften
Geholfen hat es bislang nicht, dass 10.850 Menschen eine Onlinepetition zum Erhalt von ZWAR unterschrieben haben. Das Land setzt lieber eigene Impulse – und will mit seinem Programm „Miteinander und nicht allein“ Pflegeeinrichtungen zu Anlaufpunkten für die Nachbarschaft entwickeln. „Warum muss man deswegen abwürgen, was seit Jahren funktioniert?“, fragt sich Heide Radeschewski (79), die auch bei ZWAR in Herdecke aktiv ist und besonders gut findet, dass die Gruppen ohne vereinsübliche Hierarchien auskommen. „Es gibt keine Häuptlinge – darum läuft es so gut.“ Kollegin Sabine Wiesen (70) stimmt zu. „Ich habe noch nie so viel gelacht wie bei ZWAR.“
600.000 Euro im Jahr
Das Land hat ZWAR jährlich mit 600.00 Euro unterstützt, um zehn Hauptamtliche in der Dortmunder Zentrale zu finanzieren, die als Starthelfer für die lokalen Gruppen fungierten und Schulungen angeboten haben.
Zusätzlich wird die Arbeit von Ehrenamtlichen unterstützt: Seit dem Tod von Guntram Schneider ist der frühere Thyssenkrupp-Arbeitsdirektor Klaus Beiler Vorsitzender des Trägervereins ZWAR e. V.
Die Frauen befürchten, nach März könnte ihre Gruppe die Orientierung verlieren. Zwar können lokale Gruppen wie die Herdecker weiterbestehen, müssten aber auf Impulse aus Dortmund verzichten. Chef-Koordinator Marc Bagusch besetzt eine von nur noch 2,3 übrig gebliebenen Stellen. Sieben Mitarbeitern – Gerontologen und Sozialpädagogen – musste er kündigen. „Manche sind über 60, waren über 30 Jahre bei uns und haben jetzt große Probleme, eine neue Stelle zu finden“, sagt er. Sie drohen in das Loch zu fallen, vor dem ZWAR andere bewahren möchte.