Essen. Die Angst vor Infektionen verbreitet sich schneller als das Coronavirus selbst. Experte: Die Furcht ist übertrieben, liegt aber in unserer Natur.

Täglich neue Infektionszahlen, täglich steigt die Zahl der Toten. Die Bilder und Nachrichten aus China und anderen Ländern versetzen die Menschen weltweit in Angst und Schrecken. Von einem „globalen Angststurm“, der sich schneller verbreite als das Virus selbst, spricht der Autor und Internet-Experte Sascha Lobo.

Ist die Furcht vor dem Virus gerechtfertigt? Oder ist die gefühlte Bedrohung bereits größer als die reale? „Wir fürchten, was wir nicht kennen und was uns bedrohen könnte“, sagt der Angstforscher Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Gefahren, die weit größer sind, wie etwa die jährliche Grippewelle, blenden wir hingegen aus.

Grippewellen verursachen jährlich Tausende Tote

Die Furcht verstellt den Blick auf die Wirklichkeit. Seit Beginn der Grippe-Saison im Oktober 2019 sind bundesweit 13.350 Influenza-Fälle gemeldet worden. Bisher starben nach Angaben des Robert-Koch-Instituts nachweislich 32 Menschen. Mehr als 3500 Patienten wurden wegen Grippe im Krankenhaus behandelt. Bei heftigen Grippewellen werden mehrere Zehntausend Tote erwartet. Mit dem Coronavirus haben sich in Deutschland bis heute zwölf Menschen infiziert.

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Angstforscher Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie.
Angstforscher Jürgen Margraf, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie. © RUB | Foto: Marion Nelle

Angst liegt in unseren Genen, sie ist ein evolutionärer Mechanismus, der unsere Sinne schärft und für Gefahren sensibilisiert. „Mit Einsicht und Aufklärung kann man nur begrenzt dagegen angehen“, sagt Margraf. Das Coronavirus ist eine neue Bedrohung, auf sie richtet sich nun alle Aufmerksamkeit. „Um die normale Grippe kümmern wir uns nicht, weil wir an diese Gefahr gewöhnt sind. Was wir kennen, unterschätzen wir, was wir nicht kennen, überschätzen wir“, sagt der Psychologe.

Eigentlich verdiene das Virus bislang nicht so viel Aufmerksamkeit, sagt Margraf. „Was sind die wahren Risiken, wenn Sie sich ein langes Leben wünschen?“, fragt er. Der Lebenswandel, Rauchen, Ernährung, zu wenig Bewegung, fehlende Impfungen. Sich darum zu kümmern, wäre rational. Doch diese Alltagsrisiken tauchen in unserer Wahrnehmung nicht auf.

Beherrscht wird sie derzeit von den Bildern aus China, von Nachrichten, die sich mit Katastrophenmeldungen überbieten, von den klassischen Medien und vor allem den Online-Kanälen, wo Fakten, Gefühle und Verschwörungsthesen verschwimmen. All dies heizt den „Angststurm“ weiter an. Schon werden Menschen auch in Deutschland angefeindet, nur weil sie asiatisch aussehen.

„Der ständige Nachrichtenfluss vermittelt eine Atemlosigkeit, die den kollektiven Erregungszustand verstärkt“, beschreibt Sascha Lobo im Spiegel den medialen Mechanismus. Jürgen Margraf: „Drastische Bilder wirken emotionaler und sind einprägsamer als Fakten. Wir verfolgen mit Staunen und Schaudern, was in China derzeit passiert. Es dringt in unsere Gedächtnisstruktur ein, bestimmt unsere Gedanken und bleibt im Hintergrund stets präsent.“

So ließen sich auch die Abwehrreflexe gegen potenzielle Überträger des Virus erklären, die Angst vor dem Fremden, der vermeintlich bedrohlich ist. Schon sehen sich asiatisch aussehende Menschen Ressentiments und offenem Rassismus ausgesetzt. „Wenn die Furcht zur Panik wird, setzt planvolles, vernünftiges Denken aus.“ Dass zudem Furcht bestehende Vorurteile gegen Fremde und Rassismus befeuert, sei psychologisch ein klassischer Mechanismus.

Rassismus und Verschwörungstheorien nehmen zu

Lobo schreibt: „Die kollektive Angst wird dann zum Anlass, lange gehegte Ressentiments und Hass sowie Verschwörungsmythen zu verbreiten.“ Eine laute, Bill Gates habe das Virus entwickelt. Oder es sei aus geheimen Laboren entkommen. Solche „Verschwörungsscharlatane“ schürten im Netz gezielt Panik. Wer sich fürchtet, glaubt vieles. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beklagte bereits eine „massive Infodemie“ in den sozialen Medien und startete eine eigene Informationskampagne.

Nur mit seriöser Information, Transparenz und Aufklärung könne man gegen die Virusfurcht etwas ausrichten, ist Margraf überzeugt. Und mit der Vergesslichkeit der Menschen. Denn wer weiß noch, dass die 2009 ausgebrochene „Schweinegrippe“ (Grippevirus H1N1) laut WHO für 18.500 Tote verantwortlich war?