Essen. Bei der Kommunalwahl werden die politischen Karten im Revier neu gelegt. Die Grünen sind im Höhenrausch, die CDU will weitere Rathäuser erobern.
Seinen Ruf als rote Bastion hat das Ruhrgebiet längst verloren. Doch seit der Europawahl im Mai scheint die SPD-Dominanz an der Ruhr endgültig gebrochen. Die jahrzehntelang tonangebende Sozialdemokratie blieb zwar rein rechnerisch stärkste politische Kraft. Mit einem Revier-Ergebnis von 23,3 Prozent waren die einst übermächtigen Genossen von der Ruhr aber nur noch ein Schatten ihrer glorreichen Vergangenheit mit absoluten Mehrheiten jenseits der 50 Prozent. Revierweit lagen CDU und Grüne mit Ergebnissen von ebenfalls über 20 Prozent praktisch gleichauf. In Bochum, Dortmund und im EN-Kreis gewannen spektakulär die Grünen, in Essen rutschte die SPD sogar auf Rang 3, nach CDU und Grünen.
Setzt sich der Trend aus EU-Wahlergebnis und Umfragen bis zur Kommunalwahl am 13. September fort, sind die Aussicht der Genossen also eher trüb. Entsprechend selbstbewusst treten die anderen Parteien auf. Aber was machen sie aus dem theoretischen Vorteil? Reiben sich CDU und Grüne schon die Hände? Kommt es ringsum zur politischen Wachablösung, wenn im nächsten Jahr Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landräte und die Kommunalparlamente gewählt werden? Und was bedeutet die vor Weihnachten verfassungsrichterlich verfügte Beibehaltung der Bürgermeister-Stichwahl für die Wahlaussichten? Ein Überblick.
Die Ausgangslage
Schaut man auf die Verteilung der politischen Spitzenämter, ist das Revier derzeit immer noch weitgehend in roter Hand: Die SPD stellt aktuell in sieben der elf Großstädte den Oberbürgermeister. Zwar sitzen mit Thomas Kufen (Essen), Daniel Schranz (Oberhausen) und Thomas Hunsteger-Petermann (Hamm) aktuell drei CDU-OBs relativ fest im Sattel. Auch Hagens parteiloser OB Erik O. Schulz wird von einer schwarz-grünen Koalition gestützt. Ein SPD-Parteibuch haben aber alle vier Landräte der einwohnerstarken Revier-Kreise. Und unter den kreisabhängigen Städten geben die Sozialdemokraten ebenfalls den Ton an: 18 SPD-Bürgermeistern stehen zwölf von der CDU, neun Parteilose und drei einer örtlichen Wählergemeinschaft gegenüber.
Orientiert man sich am Europawahl-Ergebnis und an aktuellen Umfragewerten, dürften sich die Mehrheitsverhältnisse in den Kommunalparlamenten ab September deutlich verschieben. Mit der rot-schwarzen Dominanz in den Räten dürfte es endgültig vorbei sein. Bei Oberbürgermeistern, Bürgermeistern und Landräten geht es indes häufig nicht um Parteienproporz, sondern auch um persönliche Sympathiewerte. Oft spielt auch eine Rolle, ob der Amtsinhaber nochmals antritt und seinen Amtsbonus in die Waagschale werfen kann.
Beispiel I: Bochum
Beispiel Bochum: In der Uni-Stadt genießt Oberbürgermeister Thomas Eiskirch (SPD) parteiübergreifend derart großes Vertrauen, dass die örtlichen Grünen sich trotz ihres überragenden Europawahlergebnisses lieber hinter den populären SPD-Politiker stellten, als einen eigenen OB-Kandidaten aus dem Hut zu zaubern. Vor CDU-Herausforderer Christian Haardt, Kreisverbands- und Fraktionschef seiner Partei in Bochum, liegt also ein hartes Stück Arbeit.
Das Dilemma der Grünen
Ohnehin stecken die Grünen angesichts des anhaltenden Höhenflugs in einem Dilemma. Besonders auffällig dabei: Kein einziger der insgesamt 57 Oberbürgermeister und Bürgermeister im Ruhrgebiet hat derzeit ein grünes Parteibuch. Das Problem: Anders als etwa in Essen, wo die Grünen im September immerhin mit dem Vizefraktionschef der Landtagsfraktion Mehrdad Mostofizadeh ins Rennen um das höchste Amt in der Stadt ziehen können, drängen sich vielerorts grüne Spitzenkräfte mit Stadtoberhaupt-Format nicht gerade auf.
Beispiel II: Mülheim
Dass die Personaldecke der Revier-Grünen ziemlich dünn ist, zeigt sich etwa in Mülheim. Die Umweltpartei nominiert keinen eigenen Kandidaten, sondern stellte sich lieber hinter die neue CDU-Frontfrau Diane Jägers. Mit der versierten Juristin und Abteilungsleiterin im NRW-Kommunalministerium wagt die Mülheimer CDU selbst ein Experiment. Jägers ist in Mülheim ein Polit-Import. Die 58-jährige gebürtige Norddeutsche lebt zwar seit 1980 im Ruhrgebiet, sammelte politische Praxis und Verwaltungserfahrung aber in anderen Revierstädten, darunter vier Jahre als Rechtsdezernentin in Dortmund. Union und Grüne rechnen sich in Mülheim dennoch große Chancen auf einen Sieg aus. SPD-Amtsinhaber Ulrich Scholten gilt als politisch isoliert und liegt sogar mit der eigenen Partei im Clinch. Wen die SPD ins Rennen schickt, ist zurzeit noch offen.
Beispiel III: Gelsenkirchen
Auch in der SPD-Hochburg Gelsenkirchen könnte es diesmal knapp werden für die Genossen. Im September kündigte der weithin geschätzte Oberbürgermeister Frank Baranowski völlig überraschend seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur an. Baranowski wäre für die SPD vermutlich eine sicherer Bank gewesen. Die SPD muss sich nun neu formieren und ohne Amtsinhaberbonus ins Rennen gehen. Die Entscheidung könnte zwischen zwei Frauen fallen: Stadtkämmerin Karin Welge und Bildungsdezernentin Annette Berg werden als mögliche Kandidaten genannt.
Die CDU wittert ihre Chance und hob jüngst als erste Partei einen OB-Kandidaten aufs Schild: Malte Stuckmann, Rechtsanwalt und Schatzmeister des örtlichen CDU-Kreisverbandes, soll in der Immer-noch-SPD-Hochburg als zweiter CDU-Mann nach Oliver Wittke (1999 bis 2004) das OB-Amt erobern. Auch die Gelsenkirchener Grünen wollen beim OB-Rennen mitmischen, sind in der Stadt aber wohl eher chancenlos: Bei der Europawahl fuhren sie hier ihr schlechtestes Ergebnis in ganz NRW ein.
Beispiel IV: Dortmund
Neu gemischt werden die Karten auch in Dortmund. Dort dürfte die OB-Wahl besonders spannenden werden. Die größte Ruhrgebietsstadt erhält 2020 auf jeden Fall ein neues Stadtoberhaupt. Ullrich Sierau (SPD) tritt nach zehn Jahren im Amt nicht mehr an. Wichtige Personalentscheidungen sind bereits gefallen. Die SPD schickt Thomas Westphal ins Rennen. Der derzeitige Chef der städtischen Wirtschaftsförderung, als Wahlkämpfer bislang eher unerfahren, bekommt es mit einem Widersacher von der CDU zu tun, den selbst in der eigenen Partei viele nicht auf der Rechnung hatte. Altenas Bürgermeister Andreas Hollstein will der SPD den OB-Posten in ihrer einstigen „Herzkammer“ abjagen.
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Die Kandidatur des durch sein offenes Eintreten für Flüchtlinge und durch eine Messerattacke auf ihn bundesweit bekannt gewordenen CDU-Mannes gilt wahlweise als Coup der örtlichen CDU oder als deren Bankrotterklärung. Manche in Dortmund fragen sich, ob es klug ist, in der für ihr Wir-Gefühl bekannten Stadt auf einen auswärtigen Kleinstadt-Bürgermeister zu setzten.
Und die Dortmunder Grünen? Sie suchen fieberhaft nach einer Persönlichkeit, die die 25-Prozent-Pole-Position bei der Europawahl in einen Start-Ziel-Sieg im Rennen um den OB-Posten umsetzt. Eine, die das könnte, wäre die grüne OB-Kandidaten von 2014, Daniela Schneckenburger. Als frühere Landtagsabgeordnete, langjährige grüne Fraktionsvorsitzende im Dortmunder Rat und ehemalige Landesvorsitzender ihrer Partei bringt sie die für das Amt nötige Erfahrung und Durchsetzungsfähigkeit mit. Was bisher fehlt, ist ein Ja der amtierenden Schuldezernentin. Im Februar wollen Dortmunds Grüne einen OB-Kandidaten benennen.
Was die Stichwahl bringt - und was nicht
Offen ist, welchen Einfluss die Wiedereinführung der Bürgermeister-Stichwahl auf die Chancen der Parteien im Revier hat. SPD und Grüne in NRW verbuchten das Urteil des Landesverfassungsgerichts vor Weihnachten als Erfolg. Allgemein wird erwartet, dass die Erfolgschancen von CDU-Kandidaten im zweiten Wahlgangs sinken. 2014 war das beispielsweise in Düsseldorf der Fall. Die Landeshauptstadt würde heute von einem CDU-Mann regiert. OB Thomas Geisel (SPD) erhielt 2014 erst in der Stichwahl die nötige Mehrheit.
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Im Ruhrgebiet griff dieser Mechanismus 2014 nicht: Oberhausens OB Schranz schaffte gleich im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit, ebenso Hamms CDU-OB Hunsteger-Petermann. Thomas Kufen ging in Essen mit großen Vorsprung vor SPD-Amtsinhaber Reinhard Paß in die Stichwahl, die er dann deutlich für sich entschied. In Dortmund kommt es immer wieder zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU. 1999 lag CDU-Herausforderer Volker Geers im ersten Wahlgang klar vor dem späteren Stichwahl-Gewinner Gerhard Langemeyer (SPD). 2014 rückte Annette Littmann (CDU) in der Stichwahl auf nur 3,2 Prozentpunkte an Ullrich Sierau heran.
Duisburg wählt den OB erst 2025
Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link muss sich erst 2025 muss sich erst 2025 wieder zur Wahl stellen. Der SPD-Politiker war zeitgleich mit der Bundestagswahl im Herbst 2017 gleich im ersten Wahlgang im Amt bestätigt worden. Die Verschiebung der Wahlperiode in Duisburg hängt mit der Länge der Amtszeit von Ex-OB Adolf Sauerland (CDU) zusammen, der nach der Loveparade-Katastrophe infolge eines Bürgerbegehrens abgewählt wurde.