Essen. Umweltspuren, City-Maut, Digitalisierung und grüne Welle für Radler: Es werde Zeit für eine radikale Verkehrswende, meint Prof. Dirk Wittowsky.

Mehr Mut, Visionen und Pioniergeist wünscht sich Dirk Wittowsky von Politikern und Planern bei der Umsetzung der Verkehrs- und Mobilitätswende im Ruhrgebiet. Trotz vieler Pläne sei bisher zu wenig passiert, sagt der Professor für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Universität Duisburg-Essen. Mit ebenso intelligenten wie radikalen Mitteln müsse die Region den ökologischen Umbau einleiten, um die Folgen des Klimawandels in den Städten zu mildern und die Lebensqualität zu steigern. Christopher Onkelbach sprach mit dem Wissenschaftler, wo und wie Politik, Planer und Kommunen den Hebel ansetzen können und was jeder Einzelne tun kann.

Das Ruhrgebiet ist immer noch eine Autoregion, wie kann man umsteuern?

Dirk Wittowsky: Ja, das Ruhrgebiet hat historisch sehr breite Auto-Achsen. Die Gestaltung der Städte nach dem Leitbild der autogerechten Stadt hat die Möglichkeiten, sich im Alltag nicht motorisiert fortzubewegen, stark eingeschränkt. Fast 60 Prozent der Wege in den Städten der Region werden mit dem Auto absolviert, der Anteil von ÖPNV, Rad- und Fußverkehr ist zu gering. In Berlin hat die Hälfte der Bevölkerung kein Auto und ist trotzdem sehr mobil. Da müssen wir hin.

Aber wie?

Der private Pkw als Universalverkehrsmittel hat ausgedient. Fahrzeuge sind in Wahrheit Stehzeuge. Sie parken fast 23 Stunden am Tag am Straßenrand und verschwenden öffentlichen Raum. Das wird so nicht mehr gehen.

Professor Dirk Wittowski leitet das Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Universität Duisburg-Essen
Professor Dirk Wittowski leitet das Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Universität Duisburg-Essen © Funke Foto Services | Foto: André Hirtz

Wollen Sie das Auto aus den Städten verbannen?

Ich will das Auto nicht verdammen, aber den Umbau der Metropole Ruhr von der autogerechten in eine lebenswerte Metropolregion voranbringen. Wir brauchen mehr Platz und Flächen für Fuß- und Radverkehr, Busse und Bahnen, für E-Autos, autonome Fahrzeuge, Zulieferverkehr und in Zukunft vielleicht für Paketroboter. Zugleich muss der ÖPNV besser werden, das schafft mehr Lebensqualität für alle.

Wie lässt sich das umsetzen?

Man kann Fahrspuren reduzieren und Umweltspuren einrichten, um dem Fahrrad oder dem ÖPNV Vorfahrt zu geben. Man kann den Parkraum verknappen und intelligenter bewirtschaften, Tempo-30-Zonen in der Innenstadt ausweiten oder Anreizsysteme für nachhaltiges Verhalten einrichten. Man könnte auch den Durchgangsverkehr umleiten oder für diesen eine Ruhr-City-Maut verlangen. Das würde Verkehr reduzieren, Abgase vermeiden und der Gesundheit der Menschen dienen. Ich frage mich: Warum testet das niemand im Ruhrgebiet?

Sollten einzelne Städte vorangehen?

Kommunale Verkehrsplanung macht keinen Sinn. Wir müssen städteübergreifend denken, nur ein regionales Verkehrskonzept bringt uns voran. Dazu gehört auch eine regionale Planung. Insel-Lösungen bringen uns nicht weiter. Aber wir müssen in großen Versuchslaboren in der Stadt den Anfang machen und der Bevölkerung Alternativen zeigen.

Fehlt es am politischen Willen, die Verkehrswende umzusetzen?

Auf politischer Ebene fehlt oft noch der Mut. Wir brauchen Leute, die vorangehen. Dabei muss man auch die Menschen mitnehmen, sie müssen bereit sein, ihr Verhalten zu ändern und nicht mehr mit dem Auto 400 Meter zum Bäcker oder zur Schule fahren. Es geht um einen Wandel der Mobilitätskultur und der Planungskultur. Ein Weiter-So darf es nicht geben.

Was meinen Sie mit Mobilitätskultur?

Sie wird bisher vom Auto, vom Individualverkehr geprägt. Mobilität bedeutet Freiheit, Flexibilität, sie befördert Wirtschaftsprozesse und ist ein Faktor der Lebensqualität. Doch diese Kultur muss sich jetzt ändern und nachhaltiger werden. Das geht nur, wenn wir die Menschen überzeugen und endlich aus unserer Komfortzone kommen. Das wird nicht ohne Konflikte abgehen, etwa um Flächen oder zwischen Interessengruppen. Eine Transformation der Mobilität wird aber nur gelingen, wenn alle mitziehen, Planer, Politiker und Zivilgesellschaft.

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Wie wollen Sie die Menschen überzeugen?

Wir brauchen Pioniere, die neue Wege aufzeigen. Zugleich muss der ÖPNV flexibler, smarter und spontaner werden. Denkbar wäre etwa ein Anreizsystem für den Umstieg auf nachhaltige Mobilität oder eine grüne Welle für Fußgänger und Radfahrer. Zudem sollte es mehr Mobilitäts-Möglichkeiten geben, etwa autonome Shuttle-Busse, die auch nachts auf Anforderung fahren. Auch die Vernetzung der Angebote kann durch die Digitalisierung Fortschritte machen: Eine App als virtueller Mobilitätsberater für das gesamte Ruhrgebiet, die alle Angebote in Echtzeit verknüpft und steuert. Es gibt viele Verkehrsmittel, nur in einer regionalen Vernetzung aller Systeme kann die Lösung liegen. Sogar die gute alte Rohrpost soll als Hyperloop in Hamburg wieder als Transportmittel getestet werden.

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Glauben Sie, dass diese Vorschläge realistisch sind?

Die Zeit für einen Wandel ist gut. Wir haben die Möglichkeiten der Digitalisierung, es gibt ein wachsendes Umweltbewusstsein, die Bedeutung des Autos nimmt bei jungen Menschen ab. Nachhaltige Mobilität ist das Ziel. Es wird Zeit umzusteuern, in zehn bis 20 Jahren können wir den Klimawandel nicht mehr aufhalten.

Wie kann die Wissenschaft die Politik unterstützen?

Sie kann die Ergebnisse der Forschung nutzen, um umweltgerechte Modelle zu entwickeln. Gerade im Ruhrgebiet hat die Forschung in diesem Bereich viel zu bieten. Ziel unserer Forschung ist eine nachhaltige Transformation der Städte. Lag bisher der Fokus eher auf der technischen Seite, so nehmen wir jetzt auch das Mobilitätsverhalten der Menschen in den Blick: Welche Verkehrsmittel nutzen sie, wie bewegen sie sich, wie ist die soziale Situation in den Städten, wie kann man die Infrastruktur und die Verkehrssysteme so umbauen, dass sie zukunftsfähig sind? Auch die Gesundheit der Stadtbevölkerung ist ein Thema.

Wie kann der Wandel finanziert werden? Die Städte sind klamm.

Ja, die Verkehrswende ist auch eine Frage des Geldes und der Mobilitätsgerechtigkeit. Aber auch eine Frage der Umverteilung von Steuermitteln. Das wird enorme Summen erfordern, doch über eine Ruhr-City-Maut oder die Parkraumbewirtschaftung lässt sich auch Geld einnehmen. Auch Unternehmen sollten sich stärker an den Mobilitätskosten beteiligen. Das Ruhrgebiet kann Vorreiter sein, aber man muss jetzt anfangen. Denn am Ende geht es darum, den Planeten zu retten.

Zur Person:

Dirk Wittowsky leitet seit Juli 2019 das Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Uni Duisburg-Essen. Nach dem Studium des Bauingenieurwesens in Essen ging er nach Karlsruhe, wo er 2008 über dynamische ÖPNV-Informationsdienste und ihre Nutzerakzeptanz promoviert wurde. Von 2005 bis 2007 war er Projektleiter beim integrierten Verkehrs- und Mobilitätsmanagement der Region Rhein-Main. Anschließend entwickelt er für die Deutsche Bahn Verkehrs- und Prognosemodelle. Seit 2012 leitete er die Forschungsgruppe Alltagsmobilität und Verkehrssysteme am ILS-Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung in Dortmund.

Der urbane Wandel treibt ihn um: Es gibt weltweit kein anderes Thema, das so viele Menschen direkt betrifft wie die Zukunft der Städte und die Mobilität: Heute wohnen 50 Prozent der Weltbevölkerung in Metropolen. Im Jahr 2025 rechnet man damit, dass rund zwei Drittel der Menschen in Städten leben, so Wittowsky.