Ruhrgebiet. Abgesandte der Krankenkassen tauchen regelmäßig in den Klinken auf. Die ständigen Überprüfungen binden viel Personal. Nerven liegen blank.


Zum Evangelischen Klinikum Niederrhein kommen die Prüfer zu festen Terminen. Zweimal in der Woche stehen sie im Auftrag der Krankenversicherungen auf der Matte, meist zu zweit, manchmal sogar zu dritt, um mit dem Klinikum in Duisburg stundenlang über längst abgeschlossene Behandlungen längst entlassener Patienten zu diskutieren.

Musste ein Patient mit dem Hexenschuss tatsächlich über Nacht bleiben? Wieso soll die Kasse bezahlen, dass eine Patientin schon am Tag vor ihrer Gallensteinoperation aufgenommen wurde?

Jede dritte Abrechnung wird angezweifelt

Inzwischen werde jede dritte Abrechnung des Niederrhein-Klinikums von den Kassen angezweifelt, sagt Dr. Christoph Tenhagen, Leiter des Medizincontrollings, und hält mit seinem Ärger nicht lange hinterm Berg: „Wir kämpfen hier um jeden Tag, den ein Patient bei uns verbracht hat und wodurch uns ja bereits Kosten entstanden sind. Das Ausmaß dieser Prüfungen ist nicht mehr nachzuvollziehen.“

Die Folge sei zudem katastrophal: Die Kassen können Leistungen vollständig kürzen, wenn Prüfer Dokumentationen in Patientenakten beanstanden – im äußersten Fall auch dann, weil eine einzelne Unterschrift einer Teambesprechung in der Patientenakte durchgegangen ist, sagt Tenhagen.

Kassen forderten halbe Milliarde Euro zurück

Der Ärger ist groß im Krankenhauswesen von Nordrhein-Westfalen und im Fokus steht der sogenannte Medizinische Dienst der Krankenversicherungen (MDK). Seine Prüfer gucken im Auftrag der Kassen den Kliniken auf die Finger, seit vor eineinhalb Jahrzehnten das Abrechnungssystem geändert wurde. Krankenhäuser erhalten von den Kassen seitdem Fallpauschalen, in denen für jede Behandlung genau beschrieben ist, welche Leistung die Häuser erbringen müssen. Weichen sie ab, kommen die Prüfer, selbst medizinische Fachkräfte, des MDK.

Und das geschieht inzwischen immer häufiger: 2018 sind über 530.000 Klinikrechnungen in NRW angezweifelt worden, ein Rekordwert. Dabei werden die Gutachter durchaus fündig: Zwischen 60 und 50 Prozent der Rechnungen werden bei den MDK Nordrhein und Westfalen-Lippe beanstandet und gekürzt. Meist geht es um die Verweildauer eines Patienten oder um abgerechnete Diagnosen, die der MDK anders einschätzt als der behandelnde Arzt es getan hat. 2018 flossen so rund eine halbe Milliarde Euro zurück an die Kassen.

Kliniken kritisieren den „Prüfwahn“ der Kassen

Kliniksprecher aus NRW sprechen von einem „überbordenden Prüfwahn der Kassen“, der ausgerechnet in Zeiten des Fachkräftemangels immer mehr Ressourcen in den Häusern fresse. Zwei Mitarbeiter kümmern sich am Niederrhein-Klinikum um nichts anderes als die MDK-Prüfungen, Fälle werden so dreifach durchgerechnet und kontrolliert.

Der Präsident der Krankenhausgesellschaft NRW, Jochen Brink, beklagt, dass der MDK immer weniger nach objektiven Fehlern suche, sondern rein nach Aktenlage und bis zu neun Monate nach einer Behandlung Entscheidungen und Diagnosen von Ärzten anzweifle - „ohne den Patienten je gesehen zu haben und ohne Verantwortung für den Erfolg der Behandlung“.

Kassen stellen mehr Prüfer ein

Eine besonders ungeliebte Praxis: Die Kassen können auch Kürzungen für eine beanstandete Leistung mit anderem ganz anderen Fall verrechnen, sagte Christoph Tenhagen vom Evangelischen Klinikum Niederrhein. „Wir Kliniken sind da immer im Nachteil. Wenn wir berechtigterweise von den Kassen Gelder zurückhaben wollen, müssen wir klagen.“ 400 Fälle verhandelt sein Arbeitgeber derzeit vor Gericht.

Die Nerven liegen inzwischen so blank, dass erste Kliniken den Kassen gar System vorwerfen: „Ich habe den Eindruck, da wird systematisch nach Einsparpotenzialen gesucht. Der Wettbewerb zwischen den Kassen ist groß, da müssen die Versichertenbeiträge günstig gehalten werden“, meint ein Mediziner aus der Region. Tatsächlich generieren die Kassen für jeden bei der Prüfung eingesetzten Euro eine Kostenersparnis von sieben Euro, wie der Bundesrechnungshof festgestellt hat. Und die MDKs rüsten auf: Über 135 Gutachter werden in Nordrhein inzwischen beschäftigt. Sehr zum Ärger der Kliniken und Pflegedienste werben sie gezielt um Fachkräfte, um die Teams aufzustocken.

Kassen werfen Kliniken Überkapazitäten vor

Unterstellungen und Verschwörungsgedanken weisen MDKs wie Kassen massiv zurück. Sie unterstreichen, dass die Krankenkassen gesetzlich verpflichtet sind, Abrechnungen zu überprüfen, um den sorgfältigen Einsatz der Gelder ihrer Versicherten zu gewährleisten. Und sie verweisen ihrerseits auf den Wettbewerbsdruck in den Kliniken: Massive Überkapazitäten im stationären Bereich führten dazu, dass die Krankenhäuser einen oft sehr großen Personalaufwand betreiben und sogar externe Beraterfirmen einschalten, um Rechnungen in Bezug auf die Höhe der Erlöse zu optimieren, heißt es etwa von der AOK Rheinland-Hamburg. Sie hat 2018 rund 15 Prozent der Abrechnungen überprüfen lassen und in 60 Prozent der Fälle Beanstandungen gefunden.

Zufrieden mit dem System sind die MDKs aber auch nicht. Die steigende Zahl der Prüfungen binde in den Krankenhäusern, bei Kassen und beim MDK eine Vielzahl personeller und finanzieller Ressourcen, die für die Versorgung von Patienten fehle, sagte Andreas Hustadt, Geschäftsführer des MDK Nordrhein. Systemfehler müssten korrigiert werden.

Ärzte fordern einen unabhängigen Prüfdienst

Krankenhäuser wie das Dortmunder Klinikum fordern einen unabhängigen Prüfdienst. „Entstehen muss ein Dienst, den die Kliniken ebenso beauftragen können wie die Kassen“, sagte Klinikum-Sprecher Marc Raschke. Am Klinikum werden im Schnitt nur 22 Prozent der Abrechnungen unter die Lupe genommen – bei 250.000 behandelten Patienten im Jahr.

Inzwischen hat die Prüfpraxis Landespolitik und Bundesbehörden auf den Plan gerufen. Der Bundesrechnungshof kritisierte unlängst insbesondere, dass der Verwaltungsaufwand auf beiden Seiten deutlich angewachsen sei. Das Prüfsystem müsse überarbeitet werden. Diesem Urteil schließt sich das NRW-Gesundheitsministerium an. Skeptisch stimmt offenbar, wie aus einem Bericht an den Landtag hervorgeht, dass sowohl der Anteil beanstandeter Rechnungen je nach Klinik wie auch der Anteil der überprüften Rechnungen je Kassen deutlich variiert. Das gefährde letztlich, dass Krankenhausleistungen in NRW einheitlich vergütet werden, heißt es.