Düsseldorf. . Die neue Lust am Einmischen: Bürger sammeln Unterschriften gegen Straßenbaubeiträge oder für bessere Radwege und setzten die Politik unter Druck.
Sie sind für bessere Radwege, gegen Straßenausbaubeiträge, oder sie wollen ihre Kinder nicht zu früh in die Schule schicken: Seit vielen Jahren haben sich Bürger in Nordrhein-Westfalen nicht mehr so vehement in die Landespolitik eingemischt wie in diesen Monaten. Die laufenden Volksinitiativen und Online-Petitionen entfalten beachtliche Wirkung, Landesregierung, Landtag und Parteien können sich diesem Bürger-Protest kaum entwinden.
„Die Lust am Einmischen nimmt spürbar zu“, sagte Achim Wölfel, Sprecher des Vereins „Mehr Demokratie NRW“, dieser Redaktion. Auch der Bochumer Politikwissenschaftler Jörg Bogumil findet den Trend zu mehr direkter Demokratie in NRW grundsätzlich gut.
Rekord-Beteiligung gegen Straßenbaubeiträge
Unterschriften sind das Futter für eine Volksinitiative. Aber im Fall der Initiative gegen die Straßenbaubeiträge unterschreiben so viele, dass die Sammler kaum noch wissen, wohin damit. Man könnte fast schon von Sättigung sprechen. Heinz Wirz vom Steuerzahlerbund NRW freut sich wie ein König über bisher rund 450.000 Unterstützer. „Noch nie haben bei einer Volksinitiative in NRW so viele Bürger unterschrieben“, sagt Wirtz. Er könnte ruhig noch eine Schippe drauf legen. Denn in ganz NRW schalten sich immer mehr Bürger in diesem Jahr per Initiative, Petition und Demos persönlich in die Politik ein.
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„Ein so ernsthaftes Einmischen in Landespolitik hat es lange nicht gegeben“, erklärt Prof. Jörg Bogumil (Ruhr-Universität Bochum). Der Politikwissenschaftler vermutet, dass das Senken der Hürden für kommunale Bürgerbegehren in NRW eine Lust an der direkten Demokratie ausgelöst hat, die nun nach den Kommunen die nächsthöhere Ebene erreicht. „Das springt aufs Land über“, sagt er.
Die Hürden liegen heute niedriger
Bei Bürgerentscheiden in Kommunen war bis 2011 die Zustimmung von 20 Prozent der Stimmberechtigten nötig. Heute liegt die Hürde in Großstädten bei nur noch zehn Prozent. „Immer mehr Menschen haben daher Erfahrungen mit der direkten Demokratie“, so Bogumil.
Am Wochenende wurde bekannt, dass die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ in zehn Monaten mehr als 66.000 Stimmen für einen besseren Radverkehr gesammelt hat. Das bedeutet, der Landtag muss sich mit diesem Vorstoß beschäftigen. Im März überreichte die Essenerin Sylvia Montanino dem Petitionsausschuss des Landtages 42.000 Unterschriften, die sie und ihre Mitstreiter online gesammelt hatten. Sie fordern eine Verlegung des Stichtags für die Einschulung vom 30.September auf den 30. Juni, damit künftig keine Fünfjährigen mehr eingeschult werden. Der Ausschuss beschäftigt sich mit jeder Petition, die ihn erreicht. Aber ein so mächtiger Aufschlag erhöht die Aufmerksamkeit und damit die Chance, dass Abgeordnete das Thema aufgreifen.
Mehr Demokratie: „Es ist eine Bewegung von unten“
Vor den Osterferien erreichten noch andere Unterschriften-Pakete, abgegeben vom Verein „Mehr Demokratie“, das Landesparlament. Darin wehren sich rund 17500 Bürger sich gegen die Abschaffung der Stichwahlen in NRW.
Achim Wölfel vom Verein „Mehr Demokratie NRW“ vermutet, dass auch die anhaltenden Proteste der „Fridays for future“-Bewegung dazu beitragen, dass mehr Menschen den Mut finden, sich einzumischen. „Wir freuen uns enorm darüber. Es ist nicht nur eine Bewegung, die von großen Verbänden wie dem Steuerzahlerbund in Gang gesetzt werden, es ist auch eine Bewegung von unten“, so Wölfel. Gerade bei den Straßenbaubeiträgen seien viele Privatleute unterwegs, um in ihrem Wohnquartier oder Dorf Unterschriften zu sammeln.
„In Maßen“ tut direkte Demokratie dem Land gut
Professor Bogumil sagt zwar, dass Volksinitiativen und Petitionen die repräsentative Demokratie, also die Entscheidung durch Abgeordnete in Parlamenten, nicht ersetzen könnten. In Maßen angewendet, biete die direkte Demokratie aber Gelegenheiten für die Bürger, sich jenseits von Wahlen in politische Diskussionen einzuklinken oder sie in Gang zu setzen.
Während NRW seine Freude an landesweiten Initiativen gerade erst entdecke, seien die Bayern hier schon viel weiter, erklärt Bogumil. Im Freistaat beförderte ein Volksbegehren Instrumente für die direkte Demokratie in Städten und Kreisen direkt in die Landesverfassung.
Bayern ist das beste Beispiel
Die Hürden, also die nötige Zustimmung der Wahlberechtigten, sind hier niedrig. Bei Bürgerbegehren in Großstädten reicht die Unterstützung von fünf Prozent der Stimmberechtigten. Gar 1,7 Millionen Unterstützer fand zuletzt das bayerische Volksbegehren „Rettet die Bienen“, das weit über Bayern hinaus strahlt.
Übrigens: In Bayern reichten bei einer Initiative gegen Straßenbaubeiträge 340.000 Unterschriften, um den Landtag zu beeindrucken. Er schaffte die Beiträge noch vor dem Ende der Initiative rückwirkend zum 1. Januar 2018 ab. Beobachter wie Jörg Bogumil können sich vorstellen, dass am Ende auch die NRW-Regierung angesichts des Protests gegen die Straßenbaubeiträge einknickt.
>>> Die meisten Initiativen sind gescheitert
18 Volksinitiativen gab es in NRW seit 2004. Die meisten scheiterten im Landtag oder wurden gar nicht eingereicht. Nein sagte das Parlament zum Beispiel zu den Initiativen gegen das Jagdgesetz (2015) oder für die Rückkehr zu G9 an Gymnasien (2014). Inzwischen hat die Politik das Jagdgesetz und die Gymnasialzeit selbst korrigiert. Nicht eingereicht wurden wegen fehlender Unterschriften zum Beispiel Initiativen gegen das Rauchverbot in Festzelten (2013) und gegen grüne Gentechnik (2006). Die aktuelle Initiative gegen Straßenbaubeiträge könnte wegen der vielen Unterstützer mehr Wirkung entfalten.