Bochum. . Der Stauforscher Justin Geistefeldt plädiert für ein zentrales Verkehrsmanagement im Revier und setzt auf die Schwarmintelligenz der Autofahrer.

486.000 Kilometer Stau zählte der ADAC auf den NRW-Autobahnen im vergangenen Jahr. Auch wenn der Landesbetrieb Straßen.NRW dank anderer Messmethoden auf eine deutlich niedrigere Staulänge kommt als der Automobilclub, bleibt NRW Stauland Nummer eins. Insbesondere das Ruhrgebiet steckt im Verkehrsdilemma. Im Gespräch mit der WAZ klärt der Bochumer Verkehrsforscher Justin Geistefeldt auf, was sich ändern muss, damit das Revier entlastet wird.

Immer mehr Autos, immer mehr Staus. Warum ist es so schwer, die Verkehrsprobleme im Ruhrgebiet in den Griff zu bekommen?

Justin Geistefeldt: Das Ruhrgebiet ist eine besondere Region und bringt als polyzentrischer Ballungsraum besondere verkehrstechnische Herausforderungen mit sich. Anders als in Metropolen wie etwa Berlin oder München müssen hier viele Zentren untereinander vernetzt werden. Aufgrund der Siedlungsstruktur wird der motorisierte Individualverkehr auch künftig das Rückgrat der Mobilität im Revier bleiben – mit allen Konsequenzen für die Auslastung der Verkehrswege.

Helfen uns denn mehr Radwege oder die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene?

Ich finde alle Maßnahmen begrüßenswert, die das Radfahren in der Region attraktiver machen und die Schiene stärken. Doch am Ende bleibt das Rad ein Schönwetter-Verkehrsmittel, das den Berufsverkehr nur marginal entlasten kann. Auch beim Güterverkehr muss man mit der Illusion aufräumen, man könne die Straßen durch Verkehrsverlagerung auf die Schiene spürbar entlasten. Viele Güter lassen sich per Bahn gar nicht transportieren, schon gar nicht an jeden gewünschten Zielort. Zudem würde eine Verlagerung von nur zehn Prozent des Lkw-Verkehrs eine Steigerung des Schienengüterverkehrs um fast 50 Prozent bedeuten. Dafür gibt es überhaupt keine Kapazitäten.

Braucht das Ruhrgebiet also noch mehr Autobahnen?

Die Verkehrsinfrastruktur beruht im Wesentlichen auf politischen Entscheidungen der vergangenen 30 bis 50 Jahre, die man unterschiedlich bewerten kann. Tatsache ist: Es fehlt vor allem eine leistungsfähige Nord-Süd-Verbindung im mittleren Ruhrgebiet. Der viel diskutierte Lückenschluss der A 52 in Essen würde insbesondere die B 224 auf Essener Stadtgebiet, aber auch die A 3 zwischen Oberhausen und Duisburg und die A 43 im Raum Bochum/Herne deutlich entlasten. Die Ost-West-Achse ist mit den drei Autobahnen A 40, A 42 und der A 2 im nördlichen Revier dagegen vergleichsweise gut ausgebaut.

Müssen wir mit den Staus weiter leben?

Auf absehbare Zeit ist nicht damit zu rechnen, dass wir weniger Staus bekommen. Es ist davon auszugehen, dass der Verkehr insgesamt weiter zunimmt, besonders wenn die Konjunktur weiter so gut läuft. Staus sind auch ein Symptom einer florierenden Volkswirtschaft.

Wie wird sich der Straßenverkehr in Zukunft entwickeln?

Der Pkw-Verkehr wird insgesamt eher stagnieren. Die Entwicklung ist regional allerdings sehr unterschiedlich. In Pendlerhochburgen wie Düsseldorf oder Köln dürfte der Autoverkehr weiter zunehmen. In wachstumsschwächeren Regionen, beispielsweise im nördlichen Ruhrgebiet, könnte der Autoverkehr aufgrund der demographischen Entwicklung perspektivisch sogar abnehmen. Im Schwerlastverkehr ist dagegen auch in den kommenden Jahren ein dynamisches Wachstum zu erwarten. Der zunehmende Lkw-Verkehr wird insbesondere die Autobahnen im Ruhrgebiet weiter belasten. Denn hier verlaufen wichtige europäische Transitrouten. Die Innenstädte werden durch mehr Fahrten der Liefer- und Paketdienste belastet.

Haben wir es als Bürger nicht selbst in der Hand, wie voll es auf unseren Straßen ist?

Ja und nein. Im Straßenverkehr gibt es durchaus eine Art Schwarmintelligenz. Autofahrer regeln durch eigene Anpassungsleistungen das Verkehrsgeschehen mit. Ein Beispiel: Die höchste Verkehrsstärke im Tagesverlauf konzentriert sich auf vielen Strecken auf die Morgenspitzenstunde zwischen 7 und 8 Uhr. Auf der A 40 dagegen verteilt sich diese Spitzenbelastung auf einen viel längeren Zeitraum zwischen etwa 6 und 10 Uhr. Der Verkehr passt sich also den Umständen an. Berufstätige pendeln mal früher, mal später zum Arbeitsplatz, weil sie wissen, dass es zu den Stoßzeiten deutlich länger dauert. So regeln Verhaltensänderungen den Verkehr mit. Besonders gut war das bei der Vollsperrung der A 40 in Essen im Sommer 2012 zu beobachten. Weil die Maßnahme rechtzeitig und gut kommuniziert wurde, haben sich viele Autofahrer darauf eingestellt. Das damals vorab befürchtete Verkehrschaos blieb weitgehend aus. Autofahrer sind also ziemlich clever, wenn es darum geht, Staus zu umgehen. Das funktioniert allerdings nicht bei unvorhersehbaren Störungen wie etwa Unfällen.

Wodurch kann man den Verkehr kurzfristig reduzieren?

Kurzfristige Potenziale ergeben sich am ehesten durch die Digitalisierung. Digitale Steuerungssysteme könnten zum Beispiel helfen, Leerfahrten im Schwerverkehr oder den Parksuchverkehr zu reduzieren. Langfristig kann man auch über bessere finanzielle Anreizsysteme nachdenken. Nehmen Sie die Pendlerpauschale. Damit werden all diejenigen belohnt, die nicht am Wohnort arbeiten und längere Anfahrtswege zur Arbeit in Kauf nehmen. Wer dagegen nahe dem Arbeitsplatz im Stadtzentrum wohnt, kann die dort oft höheren Mieten nicht steuerlich absetzen. Die Pendlerpauschale ist sicherlich gut gemeint, um Arbeitnehmer zu entlasten, stellt in verkehrlicher Hinsicht jedoch einen klaren Fehlanreiz dar.

Derzeit gibt es eine regelrechte Baustellenflut in NRW. Sollte man die Maßnahmen zeitlich strecken?

Viele Bauprojekte hätten schon vor zehn oder 20 Jahren begonnen werden müssen. Damals mangelte es an Geld, an Planungsreserven und manchmal auch am politischen Willen. Jetzt ist das Geld da und auch der politische Wille. Die Maßnahmen jetzt zeitlich zu entzerren, halte ich für keine gute Idee. Wichtiger ist es, möglichst verkehrsverträgliche Ausführungsvarianten zu wählen. Zu den meisten Bauprojekten auf den Straßen in NRW gibt es keine Alternative, weil vor allem viele Brückenbauwerke dringend erneuert werden müssen.

Was kann man tun, damit schneller gebaut und saniert werden kann?

Die Planungs- und Genehmigungsprozesse dauern insgesamt deutlich zu lange. Niemand will Verhältnisse wie in China, wo kein Anwohner gefragt wird, wenn man ihm eine Autobahn vor die Tür setzt. Aber zumindest beim Ausbau bestehender Autobahnen und Ersatzneubauten für Brücken wären einfachere Genehmigungsverfahren wünschenswert.

Was muss das Ruhrgebiet tun, um beim Thema Verkehr voranzukommen?

Ich plädiere für eine stärkere Vernetzung des Verkehrsmanagements im Ruhrgebiet. Das Revier muss als ein zusammengehöriger Raum gesehen werden. Das betrifft die Baustellenkoordination auch auf kommunaler Ebene, die Alternativroutensteuerung und die Schaffung der Voraussetzungen für neue Mobilitätslösungen etwa beim automatisierten Fahren. Hier wären eine Zentralisierung des kommunalen Verkehrsmanagements und auch mehr Mittel wünschenswert. Man kann nicht erwarten, dass Kommunen, denen das Wasser finanziell bis zum Hals steht, in großem Stil aus eigener Kraft in innovative Verkehrsprojekte investieren. Soll das Ruhrgebiet hier nach vorne kommen, brauchen die Städte Geld.

Kann das Revier im Verkehrsbereich dann eine Vorreiterrolle einnehmen?

Eine Modellregion könnte das Revier etwa im Bereich der vernetzten Mobilität werden. Gemeint ist damit, dass Fahrzeuge dank entsprechender Ausrüstung mit WLAN-Technologie untereinander kommunizieren und darüber hoch präzise Verkehrsinformationen erzeugen oder Gefahrenwarnungen austauschen können. Technisch ist das bereits möglich. Auch durch das automatisierte Fahren könnten in naher Zukunft große Veränderungen auf das Verkehrssystem zukommen, die das Revier aktiv mitgestalten sollte. Das alles wird aber nur gelingen, wenn man klug investiert.

>> ZUR PERSON

Justin Geistefeldt (41) ist seit acht Jahren Professor für Verkehrswesen an der Ruhruniversität Bochum und lebt in Hattingen. Zuvor war der gebürtige Braunschweiger, der seine Kindheit im Ruhrgebiet verbrachte, unter anderem Leiter des Dezernats für Strategisches Verkehrsmanagement im Hessischen Landesamt für Straßen- und Verkehrswesen. Geistefeldt verantwortet im Themenforum Verkehr der Ruhrkonferenz den Bereich Intelligente Verkehrsteuerung.