Essen. . In NRW dürfen Gymnasien weiter G8 anbieten. Im Ruhrgebiet bekennt sich dazu keines: Sie folgen Schüler- und Elternwille – und haben viele Gründe.

Bis zuletzt hat Gabriele von Heymann gekämpft. Die Leiterin des Essener Gymnasiums Überruhr sah eine Chance darin, wenn ihre Schule als einzige in der Ruhrgebietsstadt beim Turbo-Abitur (G8) verbleibt. Immerhin hatte es wie kaum ein anderes nach der Einführung der verkürzten Schulzeit 2005 so sehr seinen Betrieb umgekrempelt: Überruhr stieg um auf Ganztags-Betrieb, führte eine Unterrichtsform mit mehr Selbstorganisation der Schüler ein, um die Folgen von G8 besser abzufangen.

Doch die Schule wollte es anders: Bei einer entscheidenden Abstimmung Mitte Januar haben sich Schüler, Eltern und Lehrer knapp für die Rückkehr zu G9 erklärt. „Ich stehe unter Schock“, sagte von Heymann kurz darauf der Essener Lokalredaktion dieser Zeitung.

Sechs Schulen machen jetzt schon G9

Mit dieser Entscheidung steht Überruhr aber nicht allein da: Im gesamten Ruhrgebiet haben sich die Gymnasien für eine Rückkehr zur neunjährigen Schulzeit ab dem Schuljahr 2019/20 entschieden. Das geht aus einer WAZ-Umfrage hervor.

Dazu hat die Redaktion 149 private und öffentliche Gymnasien der elf Städte und vier Kreise angeschrieben, mit Sprechern telefoniert oder Berichte der Lokalredaktionen sowie anderer Medien aufgegriffen. Grundlage dieser Liste war die Datenbank auf dem Bildungsportal des Landes NRW. Sechs Schulen waren außen vor, weil sie nie zum Turbo-Abitur gewechselt haben - darunter eine Gesamtschule aus Bochum, die ab Sommer wieder Gymnasium sein will. An drei Schulen stehen Entscheidungen zu G8 noch bevor. Ihnen bleibt nur noch bis Ende Januar Zeit. Aus alle anderen Schulen heißt es: Sie kehren zu G9 zurück.

Umfragen vor der Abstimmung zu G9

Viele Gymnasien haben sich mit der Entscheidung nicht leicht getan. Schüler und Lehrer wurden befragt, es gab viele Debatten. „Wir haben vorher einen breiten Meinungsbildungsprozess durchgeführt und intensiv Schüler, Kollegen und vor allem Eltern von Viertklässlern befragt“, sagt etwa Marcus Padtberg, Leiter des Rheinberger Amplonius-Gymnasiums im Kreis Wesel. Anders am Oberhausener Bertha-von-Suttner-Gymnasium: Das „Bertha“ habe die Schulzeitverkürzung immer eher kritisch gesehen, heißt es dort.

Genannte Gründe für die G9-Rückkehr.
Genannte Gründe für die G9-Rückkehr. © Gerd Bertelmann

NRW hatte 2018 per Leitentscheidung die Rückkehr zu G9 festgelegt. Will eine Schule nicht mitgehen, müssen das Schüler, Eltern und Lehrer das in der Schulkonferenz beschließen. An vielen Schulen lief es anders herum: Aus Hamm, Duisburg oder Mülheim heißt es, dass Gremien gegen G8 gestimmt haben, obwohl der Gesetzgeber das nicht vorgeschrieben hatte.

Hauptgrund für G9: Mehr Zeit zum Lernen

Die Gründe für den Wandel sind vielfältig. Am häufigsten nannten die Schulen, die neunjährige Schulzeit biete mehr Zeit zum Lernen und Lehren. Das Heinrich-Heine-Gymnasium in Bottrop verspricht sich davon Lernerfolge. „Wir glauben, den Schulalltag durch G9 entschleunigen zu können“, dadurch Schul- und Unterrichtsprozesse nachhaltiger zu gestalten, teilt die Schule mit.

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Das Dortmunder Heisenberg-Gymnasium erinnert daran, dass das zusätzliche Jahr in der Sekundarstufe I geschaffen wird. Gerade da, so die Hoffnung, könne nun der jeweils individuellen Entwicklung der jungen Lernenden mehr Raum gegeben werden.

Überhaupt verweisen viele Schulleiter auf die Reife der Schüler beim Abitur. Die Abiturienten seien in G8-Zeiten mit 17, teilweise 16 Jahren sehr jung, so die Bochumer Hellweg-Schule, „vielleicht zu jung, um Entscheidungen hinsichtlich der weiteren beruflichen Entwicklung zu treffen“.

Weniger Nachmittagsunterricht, mehr Freizeit

Mit G9 sollen die Stundenpläne wieder kürzer und weniger am Nachmittag unterrichtet werden. Damit bleibe mehr Zeit für Projekte, AGs und Vereine, so die Hoffnung an vielen Schulen. Das Theodor-Heuss-Gymnasium in Recklinghausen sieht die Chance für erzieherische Aufgaben von Schule. „Soziales Lernen, Demokratieerziehung, Umgang mit neuen Kommunikationstechnologien stellen wichtige Aufgabenfelder von Schule dar, deren Bedeutsamkeit für die Herausbildung mündiger, kritischer Bürger gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können“, schreibt die Schule.

Das sagen die Eltern

Dieter Cohnen, Vorstand der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW, zeigt sich hoch zufrieden über das Ergebnis der WAZ-Umfrage unter den Ruhrgebietsgymnasien: „Wir freuen uns darüber, dass sich die Schulen so entschieden haben. Seit 2016 haben wir schwer dafür gekämpft.

Die Initiative hatte 2016 eine Umfrage unter den Eltern in NRW durchgeführt. Schon damals zeichnete sich eine Tendenz zum jetzigen Ergebnis ab. Dennoch folgten noch „viele ehrenamtliche Stunden, Treffen mit Politikern und Widerstände, die überwunden werden mussten“, so Cohnen.

Und doch ist die G9-Rückkehr keine Komplett-Abkehr von G8: Das Landfermann-Gymnasium in Duisburg etwa möchte weiterhin eine G8-Option anbieten. „Es ist kein Geheimnis, dass ich mit G8 sympathisiert habe“, sagt Schulleiter Christof Haering. Auch die Schüler und Eltern tendierten zu G8. Dennoch gab es in der Schulkonferenz einen Entscheid für G9. „An einem ‚Tag der Schulentwicklung‘ im Februar wollen wir gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrern klären, wie das neue Modell von Schule am Landfermann-Gymnasium aussehen soll.“

Andere Schulen diskutieren ebenfalls, wie sie künftig Leistungsstärkere fördern können. Unterdessen beschäftigen sie sich schon jetzt mit der Frage, wo zusätzliche Räume für die mit G9 steigende Schülerzahl geschaffen werden können.