Ruhrgebiet. . Dutzende Großfamilien aus dem Nahen Osten haben im Revier ihre eigenen Machtstrukturen aufgebaut. Der Staat schaute lange weg.
Ein Verwandter kommt selten allein. So vor allem sind kriminelle Clans im Ruhrgebiet zuletzt aus ihrem Halbdunkel an die Öffentlichkeit getreten. Ein Autounfall in Essen-Altendorf – und binnen Minuten prügeln sich 100 Menschen auf der Straße. Ein Streit nach einer Backpfeife in Mülheims Innenstadt – und schon rücken vorsichtshalber neun Streifenwagen an. Eine Kontrolle im Essener Nordviertel – die Streife wird verprügelt, lautstark die Freilassung des Tatverdächtigen gefordert. Eine Hochzeit in Mülheim – schwer bewaffnete Einsatzkräfte kontrollieren Hunderte Gäste eines selbsternannten „Unterweltkönigs“.
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Jahre hat solche Geschichten kaum jemand erzählt, Jahre wurde die Existenz von „No-Go-Areas“ negiert. Die Politik, das gibt sie inzwischen zu, schaute weg, die Polizei war zunehmend machtlos. Und so bauten in NRW rund 50 in ihren Stadtteilen gefürchtete Familienbanden mit Tausenden Mitgliedern fast drei Jahrzehnte an einer Parallelwelt. „Sie erheben den Anspruch, zu bestimmen, was auf der Straße passiert“, sagt NRW-Innenminister Herbert Reul.
Innenminister spricht von Ablehnung des Rechtsstaats
Ihre Straftaten, ergänzte Justizminister Peter Biesenbach erst diese Woche, reichten von Schutzgelderpressung über Geldwäsche und Drogendelikte bis zu schweren Gewalttaten mit Schusswaffen. „In Teilen des Essener Nordens begegnen wir einer zunehmenden Ablehnung des Rechtsstaates.“ Die Stadt gilt neben Bremen und Berlin inzwischen als deutscher Hotspot der Clan-Kriminalität.
Gekommen sind die ersten Familien in den 80er-Jahren, die meisten flohen vor dem Krieg im Libanon. Deutschland tat sich schwer mit den oft Staatenlosen mit palästinensischem oder kurdischem Hintergrund („Mhallamiye-Kurden“). „Libanesen“ hat man sie der Einfachheit halber genannt, inzwischen heißen sie „arabisch-kurdische Clans“, auch syrische Großfamilien sind aufgefallen. „Das waren Geduldete“, sagte Minister Reul 2018, „die keine Arbeit kriegten, nicht zur Schule gehen konnten. Die haben sich ihre eigene Welt aufgebaut. Das war ein fataler Fehler der Politik.“
Politik der „1000 Nadelstiche“
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Dass es seit einem knappen Jahr einen „Aktionsplan Clans“ gibt und eine „Null-Toleranz-Politik der 1000 Nadelstiche“ mit gemeinsamen Razzien von Polizei, Gesundheitsämtern, Steuer- und Zollfahndern, soll in den Familien für Unruhe sorgen und der Bevölkerung ihr Sicherheitsgefühl zurückgeben. Rund 1000 Anzeigen schrieben Ermittler 2018. In Essen nimmt eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft den Dienst auf, in Duisburg, wo das Projekt seit Juni läuft, sind bereits 210 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
Trotzdem sind Politik und Polizei nur verhalten optimistisch: In Essen, hatte Polizeipräsident Frank Richter noch vor zwei Jahren im Landtag gemahnt, seien Clan-Kriminelle „durch das gesamte Strafgesetzbuch unterwegs, die Strukturen zu unterwandern, ist fast unmöglich“. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, sagte voraus, es werde Jahre dauern, das „Paradebeispiel für völlig misslungene Integration ansatzweise in den Griff zu bekommen“. Auch Minister Reul weiß, dass der Staat spät zugreift: „Jetzt machen wir das, aber das wird dauern.“
Ende Januar hat der Innenminister deshalb eingeladen zu einer Konferenz gegen die Clan-Kriminalität. Beraten wird sozusagen an einem berüchtigten Familiensitz – in Essen.