Essen. In tausenden Fällen fordern Krankenkassen von Kliniken Geld zurück. Die Bearbeitung der Klagen führt zu Personalengpässen an den Gerichten.

Wenn beim Gelsenkirchener Sozialgericht eine Klage eingeht, dann wird sie geprüft, manuell ins System eingefügt, mit einem Aktenzeichen versehen und abgeheftet. Das nimmt in diesen Tagen überhand: „Uns sind die Aktendeckel inzwischen ausgegangen“, sagt Richterin Anneke Löns konsterniert. „Auf den Schreibtischen stapeln sich Berge von Papieren.“

Seit Anfang November erreicht die Sozialgerichte in NRW eine Flut von Klagen. Absender sind stets die gleichen: Die Krankenkassen verklagen Kliniken wegen angeblich überhöhter Abrechnungen und verlangen Geld zurück. 500 Kassen-Klagen mehr als im Vorjahresmonat seien bereits am Gelsenkirchener Gericht eingetroffen.

Siebenmal mehr Klagen

Das Sozialgericht Duisburg meldet ein Plus von 1000 Klagen. Am Sozialgericht Dortmund müssen sich die Mitarbeiter durch 2300 Klagen aus dem östlichen Revier wühlen – mehr als sieben Mal so viele wie im November 2017. Anneke Löns: „Wie wir das ohne zusätzliches Personal abarbeiten sollen, dafür fehlt mir noch die Fantasie.“

Hintergrund der Klagewelle ist eine Gesetzesänderung. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts zu Schlaganfallbehandlungen hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kurzfristig eine Ausschlussfrist zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen ins Pflegepersonal-Stärkungsgesetz eingebaut. Dazu hat er die Verjährungsfrist für Kassen-Rückforderungen von vier auf zwei Jahre halbiert.

Kassen arbeiten in Dauerschichten

Fälle von 2015 und 2016 mussten innerhalb kurzer Zeit, bis zum 9. November 2018, vor Gericht gebracht werden. Die Kassen ließen sich aber nicht ausbooten – sie arbeiten zum Teil in Wochenend- und Abendschichten ihre alten Fälle auf, in denen sie Kosten zur Schlaganfallbehandlung oder auch die Zahl abgerechneter Krankenhaustage anfechten.

Während die Deutsche Krankenhausgesellschaft zunächst über eine „schamlose Geldschneiderei“ der Kassen wetterte, sind die Sozialgerichte im Land mit den Folgen der Gesetzesänderung befasst. Die Auswirkungen sind noch gar nicht abzusehen, denn viele der eingereichten Klagen sind Sammelklagen. „Es wurden Forderungen in hunderten Abrechnungsfällen in einer einzigen Klage zusammengefasst, die aber möglicherweise Ermittlungen in jedem einzelnen Fall erfordern“, sagt Carsten Schumacher, Richter am Sozialgericht Dortmund. Daher könnten hinter den rund 2000 zusätzlich eingereichten Klagen über 10.000 Verfahren stecken.

Richter befürchten Auswirkungen auf andere Verfahren

Wie eine solche Mehrbelastung ohne zusätzliches Personal geschultert werden kann, ohne dass sich erhebliche Auswirkungen auf die Bearbeitungsdauer der anderen Verfahren ergeben, in denen Versicherte oder Leistungsempfänger um ihre Sozialleistungen streiten, sei nicht vorzustellen, so Schumacher. In Dortmund befassen sich derzeit zehn der 60 Sozialrichter mit Krankenkassenfällen, in denen regelmäßig Gutachten von Sachverständigen und oft mündliche Verhandlungen erforderlich sind.

Am Düsseldorfer Sozialgericht, wo im November schon mehr Kassen-Klagen eingegangen sind als sonst innerhalb eines Jahres, hat man bereits gerechnet: Es brauche etwa sechs bis sieben volle Richterstellen, um alle Verfahren innerhalb eines Jahres abzuarbeiten.

Land sucht nach Lösungen

Das Land sucht nach Lösungen, um die Gerichte zu entlasten. Wie das NRW-Justizministerium mitteilt, werden personelle und organisatorische Fragen geprüft. Dabei werde „unter Einbeziehung der zugunsten der Sozialgerichtsbarkeit mit den Haushalten 2017 und 2018 erfolgten personellen Verstärkungen auch die aus der neuen Klagewelle resultierende Auswirkung auf den Personalbedarf der Sozialgerichtsbarkeit in den Blick genommen“, heißt es in Düsseldorf.

Chancen ergeben sich womöglich auch durch den „Pakt für den Rechtsstaat“, der bundesweit 2000 neue Stellen in der Justiz verspricht. Minister Spahn hatte derweil am Samstag angekündigt, zwischen den Streitparteien zu vermitteln. Der Ersatzkassenverband VdEK soll bereits angeboten haben, Klagen während einer Mediation vorerst ruhen zu lassen.

>>>> Über die Hälfte aller Abrechnungen beanstandet

Wenn Krankenkassen Abrechnungen beanstanden oder Auffälligkeiten bemerken, sind sie gesetzlich verpflichtet, den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) einzuschalten. Er prüft die Diagnose und Behandlung eines Falls auf Plausibilität und Notwendigkeit.

2017 waren die MDK in NRW häufiger gefragt: Der MDK Nordrhein hat 2017 rund 240.000 Klinikabrechnungen überprüft, das ist jede zehnte Krankenhausrechnung und rund ein Drittel mehr als im Vorjahr. 63 Prozent der Abrechnungen sind beanstandet und gekürzt worden – ein Volumen von 175 Millionen Euro.

In Westfalen sind die Zahlen zwar geringer, die Folge ist aber ähnlich: In einigen Kliniken gibt es sogar Mitarbeiter, die sich diese MDK-Prüfungen begleiten und den Prüfern zuarbeiten. Bis zu 20 Prozent der Abrechnungen würden inzwischen angezweifelt, heißt es aus Kliniken. Sie beklagen den hohen bürokratischen Aufwand. Fälle, in denen sich Kliniken und Kassen nicht einigen, laden vor den Sozialgerichten.