Düsseldorf. . Hannelore Krafts Stärke und Schwäche zugleich ist ihr emotionaler Zugang zum Regieren. Auf Kritik an ihrer durchwachsenen Bilanz reagiert die Ministerpräsidentin (SPD) immer häufiger gereizt.
Wer verstehen will, wie Hannelore Kraft zeitweilig zu einer der beliebtesten Politikerinnen Deutschlands und zur Kanzlerhoffnung aufsteigen konnte, landet vielleicht bei diesem heiteren Herbstabend 2011. Die Ministerpräsidentin kommt gerade von ihrer ersten Auslandsreise als turnusmäßige Vorsitzende des Bundesrates zurück. Luftwaffen-Airbus, rote Teppiche, das ganz große protokollarische Besteck. Kraft erzählt im kleinen Kreis von der ersten Nacht im Regierungsflieger. Welches Gewese da um sie, die Hannelore aus Mülheim, in der noblen Präsidentenkabine gemacht wurde. Und lacht sich kringelig.
Man sitzt dabei und denkt: So geht Spitzenpolitik also auch. Ohne Wichtigtuerei. Ohne Selbstüberhöhung. Mit dem Charme von nebenan. Kraft hat sich da gerade mit einer Minderheitsregierung ins Ministerpräsidenten-Amt getastet. Sie muss täglich Kompromisse schließen, um nicht sofort in Neuwahlen zu stranden. Kleine Schritte statt große Pläne. Wenn sie unsicher ist, fragt sie in direktem Revier-Jargon einfach: „Wat sagense dazu?“
Triumphaler Sieg über die CDU
Alles an der inzwischen 55-Jährigen wirkt damals so herrlich normal. Wie sie von ihren Spieleabenden mit der Nachbarschaft erzählt oder Ehemann Udo ihre Vereidigung mit dem Familien-Camcorder filmt. Wie sie im Mönchengladbacher Stadion „Die Elf vom Niederrhein“ besingt und im Sauerländer Freizeitheim Ferien macht. Dazu der emotionale Zugang zum Regieren, der an Johannes Rau erinnert. Am Ende steht 2012 ein triumphaler Sieg über CDU-Herausforderer Norbert Röttgen, der als Prototyp des Dreiklangs „Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal“ daherkommt.
Wer Kraft heute begegnet, sieht die Leichtigkeit von einst nur noch selten aufblitzen. Auf Kritik reagiert sie oft pampig. Passt ihr eine Frage nicht, sagt sie schneidend: „Da bitte ich um Verständnis, sorry!“
Sie wirkt genervt von all den Professoren, Journalisten, Experten. Kraft hat sich einen Zettel mit Erfolgszahlen ihrer Regierungsarbeit in Folie schweißen lassen. Es ist ein laminierter Schutzschild gegen die negative Betrachtung ihrer Amtszeit. Gegen die „Schlusslicht-Debatte“ über das in Bundesländer-Vergleichen notorisch mäßige Nordrhein-Westfalen. Gegen Überschriften wie „Das deutsche Griechenland“ („Bild“) oder „Das verlorene Land“ („Welt“).
Hannelore Kraft - ein Blick zurück
Auf Kritik reagiert sie mit Selbstlob
Es ist Ende März, Krafts Wahlkampf-Bus hält vor dem Awo-Kindergarten „Eiswiese“ in Düren. Von den Balkonen der umliegenden Wohnblocks grüßen sonnenschirmgroße Parabolschüsseln. Drinnen hüpfen Kinder mit Migrationshintergrund. „Ich bin der Partykapitän, ich will Euch tanzen sehen“, dröhnt aus den Lautsprechern. Kraft wirft die Hände in die Luft und wippt mit den Beinen. Es ist ein Termin ganz nach ihrem Geschmack. Ihre Wahlplakate zeigen kletternde Kinder, glückliche Rentner und sattgrüne Wiesen. „Wahlkampfreise ins SPD-Wunderland“, höhnt der WDR.
Kraft hat sich entschieden, mit übertriebenem Selbstlob auf zuweilen überzogene Kritik zu reagieren. Das verstellt den Blick auf eine faire Betrachtung. Es gibt zweifellos Erfolge. Den „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ für notleidende Kommunen etwa. Die zur Marke gewordene Jagd auf Steuerflüchtlinge. Den für NRW günstigen neuen Länderfinanzausgleich. Oder die Rekordsummen aus dem künftigen Bundesverkehrswegeplan.
Nur hatte Kraft Anderes versprochen: „Kein Kind zurücklassen“. Eine von ihr in Aussicht gestellte „Präventionsrendite“ für frühe soziale Vorsorge stellt sich bislang nicht ein. Die Kinderarmut ist gewachsen. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Schüler sind niedriger als sonst wo in Deutschland. Der überhastet eingeführte Rechtsanspruch auf Inklusion sorgt für chaotische Zustände in vielen Klassenzimmern. Kita-Plätze? Allein in Essen fehlen noch Hunderte.
Kraft betont gern, dass sie Diplom-Ökonomin ist und elf Jahre „in der Wirtschaft“ gearbeitet habe. Die Welt der Masterpläne scheint dennoch nie ihre geworden zu sein. Eine Szene aus dem Frühjahr 2016 wird zum Lacherfolg in der ZDF-Satire „Heute Show“: Kraft sitzt in der Landespressekonferenz und soll ihre „großen Themen“ erläutern. Sie blättert gefühlte Minuten ratlos in ihren Unterlagen, kapituliert schließlich: „Ich finde es nicht, wir können es gerne nachliefern...“
Ihr gelingt echter Trost
„Hannelore ist eine Betroffenheitspolitikerin“, sagt ein Regierungsmitglied. Sie müsse Politik fühlen. Tatsächlich ist sie in Momenten wie nach der Loveparade-Katastrophe oder dem Germanwings-Absturz eine Bank. Wo andere Spitzenpolitiker in formelhaften Krisenmodus verfallen, gelingt ihr echter Trost. Kraft blüht in Begegnungen außerhalb der Politik-Blase auf. Ob mit Ingenieuren im Labor, bei Erzieherinnen in der Bastelecke oder auf einem Staatsempfang für Prinz William – Persönliches meistert sie mit bemerkenswerter Leichtigkeit.
Krafts impulsiver Stil wäre wohl unschlagbar, würde er von einem professionellen Beraterkreis fachlich und strategisch unterfüttert. Doch die wenigen, denen sie vertraut, deuten ihre offensichtlichen Fehler lieber zu böswilligen Kampagnen gegen sie um.
Etwa als sie nach den Massenübergriffen der Kölner Silvesternacht 2015 nicht so präsent ist, wie man es von einer „Kümmerin“ erwarten darf. Zu oft wird politisch auf Sicht gefahren. Mit der Absage, „nie, nie Kanzlerkandidatin“ werden zu wollen, nimmt sich Kraft 2013 vorschnell in Berlin aus dem Spiel. „Kraft verzichtet auf einen größeren Wirkungsanspruch“, sagt der Politologe Ulrich von Alemann.
„Sie ist einfach ein sehr anständiger Mensch“
Eine Kabinettsumbildung 2015, sonst der härteste Befreiungsschlag eines Regierungschefs, verpufft. Kraft wechselt blasse Minister ein, die der Kölner Stadt-Anzeiger „Die Leisen aus dem Sorgenland“ tauft. Die Aussortierten werden derweil so rührselig verabschiedet, dass der entlassene Arbeitsminister Guntram Schneider mitten im Zeremoniell aufheult: „Ich bin nicht krank, ich hab’s nur am Knie.“ Der skandalerprobte Innenminister Ralf Jäger darf hingegen weitermachen. Immer weiter.
Auch Krafts frühe Parteinahme für Sigmar Gabriel als Kanzlerkandidaten gilt nicht als taktisches Glanzstück. „Sie ist einfach ein sehr anständiger Mensch“, wunderte sich selbst Gabriel über den Rückhalt aus Düsseldorf. Ironischerweise hat Überraschungskandidat Martin Schulz die Genossen an Rhein und Ruhr seit Jahresbeginn aus ihrer Lethargie gerissen. Sozialrhetorik und Aufstiegsgeschichte des Mannes aus Würselen kommen Kraft, der Tochter eines Straßenbahners und einer Schaffnerin, plötzlich sehr gelegen.
Auf den in Landtagswahlen so wichtigen Amtsbonus allein kann sie sich nicht mehr verlassen: Im Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU, das für den 14. Mai vorausgesagt wird, ist ihr jede Hilfe von außen willkommen.