Ottawa. Kanada ist, anders als der große Nachbar USA, eher ein beschauliches Land. Das Regierungsviertel in der Hauptstadt Ottawa ist nicht besonders geschützt. Täglich besuchen Tausende von Touristen das Parlament. Seit 9.52 Uhr Ortszeit gestern ist die Beschaulichkeit zu Ende

Seit 9.52 Uhr Ortszeit gestern ist die Beschaulichkeit zu Ende. Am 1939 für die Toten des 1. Weltkriegs gebauten Denkmals nahe dem Eingang zur Volksvertretung fallen mehrere Schüsse. Ein Soldat der Ehrenwache bricht zusammen. Ein schwarz gekleideter Mann rennt auf das Parlament zu, einen Schal um den Kopf gewickelt, wie ein Bauarbeiter berichtet.

„Geht in Deckung“, rufen Polizisten den schreienden Passanten zu. Vor dem Eingang des Gebäudes und wenig später hinter dem hohen Portal liefert sich der Schütze ein Gefecht mit Sicherheitskräften. „Wir hören mindestens 30 Schüsse“, twittert Minister Tony Clement aus einer Fraktionssitzung. Andere zählen 20 oder auch 50. Die Abgeordnete Michelle Rempel schickt eine Mitteilung an ihre Mutter: „Mama, mir geht es gut, ich verstecke mich“. Ministerpräsident Stephen Harper ist da schon in Sicherheit gebracht worden und hat das Gebäude verlassen. Die Abgeordneten sind jetzt aufgefordert, sich in ihren Büros oder Sitzungssälen zu verbarrikadieren.

CSU-Politiker als Augenzeugen

Draußen fahren Panzerwagen auf. Bewaffnete Kräfte sichern mehrere Stadtteile ab, die City wird geräumt. Auch direkt gegenüber dem Regierungsgebäude, in einem Supermarkt, soll geschossen worden sein, heißt es zunächst. Später dementiert das die Polizei, die den evakuierten Regierungssitz nach versteckten Schützen absucht.

Alle Bewohner in dem Viertel sollen sich von den Fenstern und Dächern fernhalten, fordern Lautsprecherwagen der Polizei auf. Die Sicherheitskräfte durchsuchen auch Häuser, halten Autos. Plötzlich gleicht der Parlamentshügel einem Heerlager.

Inzwischen kümmern sich zunächst Passanten und dann die herbeigerufenen Sanitäter um den zusammengesackten Soldaten der Ehrenwache, dessen gesichertes Sturmgewehr neben ihm liegt. Sie versuchen mit einer Herzmassage, sein Leben zu retten. Aber er schafft es nicht. Der junge Mann stirbt wenig später.

Der Zufall will es, dass mehrere deutsche Politiker in der Nähe sind. Eine Delegation der CSU hat gerade ihr Hotel in Parlamentsnähe verlassen, als der frühere Parteichef Erwin Huber, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Uhl und der bayerische Landtagsabgeordnete Otmar Bernhard von den Schusswechseln überrascht werden. Richard Teltschik von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung berichtet später: „Es kamen aus allen Straßen fast parallel die Polizeiautos gefahren“.

Ist der Soldat am Ehrenmal das Opfer eines terroristischen Anschlags, ist das hier Kanadas 9/11?

Schon am Montag hatte ein Mann zwei kanadische Soldaten in der Provinz Quebec überfahren. Einer der beiden starb. Der Täter: Ein Islamist. Gegen ihn hatte die Regierung zuvor ein Ausreiseverbot erwirkt. Nach diesem Anschlag hatte die Regierung die Terrorwarnstufe von „niedrig“ auf „mittel“ erhöht, weil die Geheimdienste des Landes eine Zunahme des Nachrichtenaustausches zwischen Extremisten festgestellt hatten.

„Eine Person oder eine Gruppe in Kanada oder im Ausland hat die Absicht oder die Mittel, einen Terror-Akt zu begehen“, hieß die Begründung. Schnell wird in der kanadischen Hauptstadt ein Zusammenhang zwischen den beiden Vorfällen hergestellt und über Verbindungen mit dem Krieg des „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak spekuliert.

Ein verändertes Klima

Dort wollen die Kanadier Seite an Seite mit den Amerikanern Einsätze gegen die Radikalen fliegen. Tatsächlich hat sich in der letzten Zeit das politische Klima auch in Kanada verändert, das lange als liberal gilt. Der Regierungschef hatte klare Worte in Richtung der IS gerichtet. Ist das jetzt die Rechnung? Auch nach Stunden ist diese Frage noch offen. Keiner kennt die Hintergründe.