Kiew. .
Auf dem Schlachtfeld ist die Wahrheit bekanntlich das erste Opfer. Wieviel Schaden sie in der Ukraine schon genommen hat, ist schwer zu sagen. Aber jedenfalls ist sie schwer unter Druck geraten und ihrerseits zur Kampfzone geworden. Denn das stimmt auf jeden Fall: Das Land ist im Krieg.
In der Hauptstadt merkt man das nicht sofort. Es ist ruhig. Das Leben – Geschäfte, Kinos, Cafés und Restaurants – läuft scheinbar normal. Alltag. Und doch ist nichts, wie es war, sondern: patriotisch, wehrhaft, misstrauisch. Oder schon mehr als das? Eine Gesellschaft im Klammergriff des Faschismus, wie die Moskauer Propaganda behauptet? Gemessen an dem, was man in Kiew sieht, ist das falsch, weil grotesk übertrieben. Wohl wahr: Es gibt einen dröhnenden Nationalismus, das martialische Neonazi-Freikorps „Bataillon Asow“, die Heldenverehrung des Super-Nationalisten und zeitweiligen NS-Kollaborateurs Bandera, den radikalen „Rechten Sektor“ und die chauvinistische Svoboda-Partei. Das alles ist sicht- und hörbar. Aber das Land im Griff haben die Ultras nicht.
Eher ist es so, dass die Gesellschaft als ganze das Gewicht nach rechts verlagert hat, Richtung Vaterland und Verteidigung. Auf dem Trottoir stehen Blumenkübel aus Beton, mit einem frischen Anstrich in den Landesfarben Blau-Gelb. Die Rockband Tartak spendet Konzert-Erlöse „für unser Militär und die Verwundeten“. Und in der Innenstadt stößt man an zahlreichen Stellen auf Tafeln, Blumen oder Bilder zu Ehren der „himmlischen Hundertschaft“, der Toten des Maidan-Aufstands.
„Wir mussten nicht einfach weg, wir mussten rennen!“
Der Feind ist überall: Putin mit Hitlerbärtchen auf T-Shirts, als Dekor auf Klo-Papier oder Fußabtretern, als lächerliche Figur mit Krücken und Supermann-Kostüm auf einem Magazin-Cover. Über der Straße hängt ein Transparent mit der Aufschrift „PTN – HLO“. PTN steht für „Putin“, das zweite Buchstaben-Trio für eine der obszönsten Beleidigungen der – an Derbheiten wahrlich nicht armen – russischen Sprache. Bei einigen ist die verbale Mobilmachung eher militärisch: „Wir kämpfen für unsere Heimat – wir sind bereit zu sterben!“, verkündet der Oligarch Serhiy Taruta, von Präsident Petro Poroschenko als Gouverneur des Bezirks Donezk eingesetzt.
Mehr als tausend Menschen sind im Osten schon gestorben, Hunderttausende auf der Flucht. Im März verzeichnete das EU-Büro in Kiew 5000 Binnen-Vertriebene. In der Zwischenzeit ist die Zahl auf über 300 000 geklettert. Der Staat – oder was von ihm übrig ist nach Jahrzehnten der Korruption und systematischer Ausplünderung – ist überfordert. In einem verödeten Gewerbegebiet im Kiewer Viertel Vydubychy hat die Emmanuel-Freikirche 150 Leute untergebracht, Familien, die der Krieg aus ihrer Heimatregion vertrieben hat. „Wir mussten nicht einfach weg“, erzählt der 46-jährige Igor, „wir mussten rennen!“. Warum? „Weil man für die Ukraine war.“ Oder nicht eindeutig genug für die orthodoxe Kirche. Bürgerkrieg? Nein, sagt Igor, schlimmer: „Das ist ein richtiger Krieg.“
Der Westen ist eine Chiffre für das gute Leben
Die Flüchtlinge hausen in einer trüben Wellblech-Halle in notdürftig zusammen gezimmerten und mit Decken verhängten Verschlägen. Es riecht nach Gummi, Altöl und Kohl-Suppe. Im Sommer war das Lagerleben noch ganz lustig, jetzt wird es ungemütlich, selbst wenn der scheidende EU-Kommissar Günther Oettinger den geplanten Gas-Deal zwischen Moskau und Kiew unter Dach und Fach bringt. Wie es überhaupt soweit kommen konnte – Sergej, ein beinamputierter Früh-Rentner aus Donezk, versteht es nicht. „Es gab doch keine Diskriminierung - wir waren so eng mit den Russen. Vielleicht waren wir ihnen gegenüber zu loyal…“
In Sergejs Heimat laufen die Dinge in Richtung eines „eingefrorenen Konflikts“ mit den prorussischen Separatisten. Der Rest des Landes sucht seine Zukunft im Westen. „Wir sind Europäer, mit unserer Geschichte und geographisch“, meint Witali Klitschko, nach seiner Boxer-Karriere jetzt Bürgermeister von Kiew. Der Westen ist eine Chiffre für das gute Leben. Tatsächlich kennen ihn die wenigsten: Zwei Drittel der Ukrainer haben ihre Heimatregion nie verlassen.
Die EU ist Hoffnung und Enttäuschung zugleich. Präsident Poroschenko will das Land bis 2020 so weit bringen, dass es die Aufnahme in die EU beantragen kann. Seit Beginn der Krise ist die Unterstützung der Bürger dafür von 40 auf 60 Prozent gestiegen. Andererseits bekommt die Kiewer EU-Vertretung E-Mails, in denen es heißt: Vielen Dank, dass ihr uns irgendwann aufnehmen wollt - wir sind nicht mehr interessiert… Die Weigerung, Waffen zu liefern, das Gezurre um Maßnahmen gegen Russland und ihre Verschärfung, die Bereitschaft, auf russische Vorhaltungen einzugehen, haben Zweifel aufkommen lassen, wie ernst der Westen es mit der Unterstützung der ukrainischen Selbstbestimmung meint.
Für Putin-Versteher gibt es kein Verständnis
Für Putin-Versteher gibt es kein Verständnis, für Medien, die sich für Extremisten und Rassisten am rechten Rand des Widerstands gegen Putin interessieren, nur wenig: „Die westliche Presse ist sehr leicht hinters Licht zu führen“, sagt ein Mitregierender. „Die suchen die Wahrheit immer in der Mitte – das schadet der Wahrheit.“