Essen. . Mediziner sollen nach Ansicht von Fachleuten mehr auf Fälle häuslicher Gewalt achten. Schon das Erstgespräch könne dazu genutzt werden, bei den Patienten vorzufühlen, fordert die Ärztekammern in NRW.

Die Zahl der Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt ist in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen. Wurden in NRW 2004 noch 16 267 Fälle von häuslicher Gewalt angezeigt, so waren es im vergangenen Jahr bereits 27 284. Auch wenn Experten vermuten, dass dies vor allem einer höheren Bereitschaft zur Anzeige zu verdanken ist, so gilt doch: „Die Dunkelziffer in diesem Bereich ist hoch“, so Wolfgang Wöller, Experte für die Folgen von Gewalterfahrungen aus Bad Honnef.

So hat eine Studie in der EU ergeben, dass fast jede vierte Frau (22 Prozent) in einer Partnerschaft Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt wird und jede zweite Frau in Deutschland Opfer psychischer Gewalt wird (EU-Schnitt: 43 Prozent). Die Ärztekammern im Rheinland und in Westfalen-Lippe wollen daher mit einer Fachtagung Mediziner für die Problematik sensibilisieren.

„Die Frage nach Gewalterfahrung und nach dem Sexualleben gehört meines Erachtens in jede gründliche internistische Untersuchung“, betont Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein. Werde diese Frage zur ärztlichen Routine, käme sie den Medizinern einfacher über die Lippen und das Risiko sinkt, für unklare Unterleibsschmerzen, depressive Verstimmungen oder Schlaflosigkeit eine andere Ursache anzunehmen.

Selten frische Verletzungen

Denn das, so die Ärztekammern bei einem gemeinsamen Pressegespräch, ist eines der Hauptprobleme: Nur selten kommen die Misshandlungsopfer mit frischen Verletzungen in eine Notfallpraxis. Dann gelte es, den Vorfall so zu dokumentieren, dass die Befunde später vor Gericht verwertbar sind. Oft jedoch sind die Folgen – zumal von psychischer Misshandlung – weit schwerer zu entdecken. Nur die sensible und ohne Terminhetze vorgenommene Befragung gebe den Traumatisierten die Chance, sich zu öffnen, so die Mediziner – nur so lasse sich das Schweigen brechen.

Schweigepflicht

Was die Schweigepflicht auf ärztlicher Seite angeht, wird diskutiert, ob diese gelockert werden soll. Klar ist: Besteht Gefahr für Leib und Leben, darf der Arzt die Polizei benachrichtigen. Und er darf das Jugendamt verständigen, wenn er davon ausgeht, dass einem Kind Misshandlungen zugefügt werden. Teile der Ärzteschaft wollen die Schweigepflicht zumindest so weit lockern, dass sie Medizinerkollegen auf den Verdacht von Misshandlungen aufmerksam machen dürfen.