Mariupol. . Während der Verhandlungen um einen Waffenstillstand kämpften die Kriegsparteien in der Ostukraine noch einmal heftig um jeden Meter Boden.
Die Septembernacht ist still und sternenklar am Blockposten „Wostotschnoje“ der ukrainischen Armee in Mariupol. Die Kämpfer des 9. Winnizer Territorialschutzbataillons sitzen im Gras, rauchen. „450 Mann sind wir“, sagt der Unteroffizier Jura. „50 Freiwillige oder Vertragssoldaten, alle anderen sind Eingezogene.“ Wer kündigen wolle, dem drohten drei Jahre Gefängnis, den übrigen der Heldentod. „Ich bin 46, habe schon Enkel“, sagt Jura. Aber viele seien jung, um die 20. Das ganze Bataillon sei für den Waffenstillstand.
Gestern Mittag sollten im umkämpften Donbass die Waffen verstummen. Sowohl der ukrainische Präsident Pjotr Poroschenko wie die Führer der prorussischen Rebellen hatten eine Waffenruhe in Aussicht gestellt. Eine Kontaktgruppe ukrainischer, russischer und OSZE-Unterhändler verhandelte deren Bedingungen in Minsk mit den Regierungschefs der separatistischen „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk. Am Nachmittag ließ das Artilleriefeuer bei Mariupol tatsächlich nach.
Am Tag zuvor attackierten die prorussischen Rebellen, offenbar wieder massiv von russischen Truppen unterstützt, die Ukrainer bei Lugansk und auf dem Flughafen Donezk. Auch Poroschenkos Erklärung, die Nato wolle der Ukraine künftig Präzisionswaffen liefern, klang nicht nach Frieden. Und am Abend verdichteten sich die von Artilleriesalven wiederholt unterstrichenen Gerüchte, die Russen wollten die Halbmillionenstadt Mariupol am Asowschen Meer bis Freitagmittag erobern, offenbar rechtzeitig zum Waffenstillstand.
Gegen 3 Uhr nachts meldete der Moskauer Propagandasender Westi 24, prorussische Rebellen seien in die Ostviertel der Stadt eingedrungen. Eine glatte Falschmeldung. Zu dieser Zeit ärgerten sich Jura und seine Kameraden darüber, dass sie mit 70 Mann den Blockposten „Wostotschnoje“ gegen die russischen Panzerkolonnen verteidigen sollten.
Drei Stunden später aber hat Jura seinen Groll vergessen. Im ersten Tageslicht rauscht ein gutes Dutzend ukrainische Kampffahrzeuge vorbei, blaugelbe Fahnen flattern, die Kinderaugen der aufgesessenen Soldaten leuchten vor Kampfeslust. „Ruhm der Ukraine!“, ruft Jura. „Ruhm den Helden!“, die Jungs auf den Panzerwagen winken zur Antwort mit geballten Fäusten. Dann brausen sie weiter, nach Osten. Eine Minute später blitzen im Feld die ersten Feuerstöße eines ukrainischen Grad-Raketenwerfers auf – heute greifen die Ukrainer an.
Es sieht aus, als habe der mögliche Waffenstillstand im Donbass militärische Torschlusspanik ausgelöst. Wohl auch, weil die sieben Ausführungsbestimmungen, die Wladimir Putin vorgeschlagen hat, unter anderem einen Rückzug der ukrainischen Artillerie und Luftwaffe vorsieht. Aber auch eine Einstellung der Rebellenoffensive. Zuvor wird noch einmal heftig um Boden gerungen.
Salven aus allen Kalibern fliegen hin und her, ein russischer Grad-Raketenwerfer zerfetzt mit krachenden Salven die Stoppelfelder jenseits des Blockpostens. Der Waffenstillstandstermin ist schon geplatzt, als in Minsk um 13 Uhr die Verhandlungen der Kontaktgruppe beginnen. „Sie wollen uns reif fürs Nachgeben schießen“, klagt die Kiewer Kriegsreporterin Inna in Mariupol. Viele Rebellen wollen sowieso weiterkämpfen. „Bis wir die ukrainischen Nazis auch aus Lemberg vertrieben haben“, sagt ein Schützenpanzerkommandant. Seit Monaten trichtert die russische Propaganda den Separatistenkämpfern aber auch den eigenen Soldaten ein, sie führten einen heiligen Krieg.
Um Mariupol poltert die Schlacht, immer wieder rasen Ambulanzen im Slalom durch die Betonbarren des Blockpostens. Dann kehrt die gepanzerte Kolonne zurück. Diesmal wurden sie nicht zusammengeschossen, die Fahnen flattern blau-gelb, die aufsitzenden Jungs aber haben nun müde Gesichter.