Essen/Bochum. . Salafisten werben in den Innenstädten offensiv um Nachwuchs - und haben dabei offensichtlich Erfolg. Für die Eltern betroffener Kinder ist das eine schwierige Situation: Gehen sie ihren Nachwuchs zu forsch an, zieht der sich weiter zurück und ist nicht mehr zu erreichen. Experten geben Tipps.

In den Innenstädten werben radikale Islamisten offen um Nachwuchs. Vor dem Jugendzentrum in der Bochumer Hustadt sprachen Salafisten Jugendliche an, fragten, ob sie mal fünf Minuten Zeit hätten für ihren Gott. „Beim zweiten Mal hatten sie einen Kasten Cola dabei und sprachen länger mit den Jugendlichen, die Ansprache wirkt“, beobachtete Sebastian Hammer von der Beratungsstelle „Wegweiser“.

Hammer arbeitet in Bochum in einer von bislang landesweit fünf Anlaufstellen des im März gestarteten Präventionsprogramms gegen gewaltbereiten Salafismus, eine radikale Ausrichtung des Islam, die in NRW seit einigen Jahren einen enormen Zulauf erlebt. Durch Propaganda im Internet und Gespräche, wie etwa in Bochum, gelingt es salafistischen Gruppen, neue Anhänger zu werben. Dabei helfen auch der syrische Bürgerkrieg und die Erfolge der IS-Milizen.

Wenige Anlaufstellen

Wenn Eltern bemerken, wie sich ihr Sohn plötzlich verändert, mit anderen Freunden verkehrt, Frauen nicht mehr die Hand gibt, viel über Religion redet oder regelmäßig betet, suchen sie Rat. Auch manche Jugendliche, die sich von extremistischen Gruppen lösen wollen, brauchen Hilfe. Bisher gibt es in Deutschland nur sehr wenige Beratungsangebote, die speziell auf Islamismus zugeschnitten sind.

Als reines Aussteigerprogramm startete vor vier Jahren das Bundesamt für Verfassungsschutz das Projekt „Hatif“. Doch welcher gewaltbereite Islamist wählt ausgerechnet die Hotline des Geheimdienstes, der ihn verfolgt? Der „Erfolg“ blieb denn auch aus, weshalb das Angebot in Kürze eingestellt werden soll. „Es gibt keinen großen Zulauf“, gestand eine Sprecherin.

Die Angst der Eltern wächst

Beim Berliner Zentrum Demokratische Kultur (ZDK), das sich seit Jahren mit Islamismus befasst und wo seit 2011 die Beratungsstelle Hayat (Leben) angesiedelt ist, weiß man, dass Islamisten staatliche Institutionen von „Ungläubigen“ grundsätzlich ablehnen. Hayat setzt bei den Familien an. „Die Angst bei den Eltern hat enorm zugenommen“, sagt Claudia Dant­schke von Hayat.

Seit Jahren befasst sich die Arabistin mit der Deradikalisierung junger Muslime. „Wenn sich besorgte Eltern an uns wenden, versuchen wir in intensiven Gesprächen, den Lebensweg der Kinder bis zu dem kritischen Punkt herauszuarbeiten“, erklärt sie. „Wonach sucht das Kind? Was macht es offen für diese Ideologie? Ist es in einer Krise, auf Sinnsuche oder will es sich beweisen? Das ist wie ein Puzzle.“

Brüche im Lebensweg

Immer wieder beobachtet sie dabei, dass es einen Bruch im Lebensweg der Jugendlichen gab – Scheidung, Trennung, ein Todesfall in der Familie, fehlende Vorbilder, meist der Vater, persönliche Misserfolge. Die jungen Menschen fühlen sich unverstanden, diskriminiert und ausgegrenzt, nicht geliebt, haben Probleme in Schule oder Ausbildung, fühlen sich als Opfer, als Versager, nicht als Teil der Gesellschaft, schildert Dant­schke. Frust und Misserfolg beherrschen das Lebensgefühl und der Wunsch wächst, einen leichten Ausweg zu finden.

„Extremistische Gruppen fangen das auf. Plötzlich sind sie wieder wer, sehen eine Linie im Leben. Der Tag erhält Ordnung, es wird gesagt, was man essen und lernen soll, welche Freunde und Ziele man haben soll. Alle Entscheidungen werden abgenommen“, sagt Dantschke.

„Es gibt immer einen Hilferuf“

Dann beginnt eine langwierige Arbeit, der Versuch, die Beziehung zwischen Kind und Eltern wieder zu stabilisieren, dabei werden auch Psychologen, Familien-Therapeuten oder Vertreter muslimischer Gemeinden einbezogen. Dantschke: „In jedem Einzelfall muss man ein Netz aufbauen.“ Und sie bemerkt bei ihrer Arbeit: „Die Zahl der Ratsuchenden wächst dramatisch.“ Es fehle bundesweit an geeigneten Angeboten.

Eines davon ist „Wegweiser“ in NRW. Das Programm setzt auf Vorbeugung, will das Abrutschen in eine gewaltbereite Szene verhindern. „Es gibt immer einen Hilferuf“, hat Sebastian Hammer von der Wegweiser-Anlaufstelle in der Bochumer Hustadt beobachtet. Etwa den Jungen, der in der Schule partout seine Gebetszeiten einhalten wollte, auch im Unterricht. „Darauf muss das Umfeld reagieren, bevor es zur Ausgrenzung kommt“, sagt Hammer. Ihn auffangen – bevor es andere tun.

Ansprechpartner und Hotlines

„Hatif“, mehrsprachige Hotline beim Bundesamt für Verfassungsschutz: 0221/792-6999.

„Hayat“, am ZDK: 030/42018042, info@zentrum-demokratische-kultur.de.

NRW-Programm „Wegweiser“, 0211/8712728, info@wegweiser.nrw.de