Kairo. . Der Mann war ein Mysterium. Lange Zeit existierten von Isis-Chef Abu Bakr al-Bagdadi nur wenige Fotos. Nicht einmal vor seinen eigenen Kämpfern soll sich Al-Bagdadi gezeigt haben, weshalb er der „unsichtbare Scheich“ genannt wurde. Es gab so wenige Lebenszeichen von ihm, dass sogar die Frage auftauchte: Gibt es die Person überhaupt?

Etwas mühsam kletterte der füllige Mann die Treppen zur Kanzel in der Al-Nouri Moschee in Mosul hinauf. Bevor er das Wort ergriff, reinigte er noch einmal Zähne und Gaumen mit einem Miswak-Holz, wie bei ultraorthodoxen Muslimen üblich.

Der 44-jährige Abu Bakr al-Bagdadi ist der wohl meist gesuchteste Terrorist der Welt. Schwarzer Turban und schwarzes Gewand sollen ihn ausweisen als direkten Nachfahren des Propheten Mohammed. Eine gute Viertelstunde dauerte seine Freitagspredigt in der bedeutendsten Moschee der Stadt, in der sich bärtige Redner mit fester, klarer Stimme zum „Kalifen aller Muslime“ ausrief und die Gläubigen in aller Welt aufforderte, ihm Gehorsam zu leisten.

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Für das Milieu der Gotteskrieger ist das am Wochenende auf zwei Websites der Isis-Brigaden hochgeladene Predigtvideo aus Mosul eine bemerkenswerte Premiere. Erstmals zeigte sich Abu Bakr al-Bagdadi offenbar leibhaftig bei einer Ansprache, der mysteriöse Chef der schwarzen Gotteskrieger, deren blitzartiger Feldzug gegen Bagdad seit dem 10. Juni die ganze Region in Atem hält.

„Einen gemeinsamen Führer zu bestimmen, ist Pflicht aller Muslime, die jedoch jahrhundertelang missachtet wurde“, deklamierte der Isis-Feldherr, der sich künftig „Kalif Ibrahim“ nennen will. Er habe diesen Posten nicht angestrebt, auch sei er nicht der am besten Geeignete, schmeichelte er seinen Zuhörern, die er gleichzeitig um ihren Rat und ihre Kritik bat. „Anders als die Könige und Herrscher, verspreche ich euch nicht Luxus, Sicherheit und Entspannung“, erklärte er in gewähltem, klassischem Arabisch, bevor er als Vorbeter das Freitagsgebet feierlich beendete. Einen solch kaltblütigen und selbstgewissen Auftritt, im Herzen einer vor wenigen Jahren noch von der US-Armee kontrollierten Millionenstadt wie Mossul, hätte selbst Al-Kaida-Chef Osama bin Laden nicht gewagt.

Sämtliche Handynetze waren in der Region abgeschaltet

Einige seiner Zuhörer gaben später an, Bewaffnete hätten sie zum Freitagsgebet in die Al-Nouri Moschee befohlen. Alle Besucher seien sorgfältig durchsucht und ihnen ihre Plätze angewiesen worden. Sämtliche Mitbeter mussten noch zehn Minuten lang im Inneren ausharren, nachdem Al-Bagdadi durch einen Seitenausgang verschwunden war. Nach Augenzeugenberichten hatte der Isis-Chef, dem seine Gefolgsleute mit unterwürfiger Ehrfurcht begegnen, die Stadt kurz zuvor in einem großen Fahrzeugkonvoi betreten, mit dem er auch wieder davonraste. Für die wenigen Stunden, die er sich in Mossul aufhielt, waren sämtliche Handynetze in der Region abgeschaltet worden.

Parallel dazu begannen die Isis-Krieger, die als radikaler gelten als Al-Kaida, in Mossul und der Provinz Niniveh systematisch Heiligtümer, Mausoleen und Gebetshäuser zu zerstören, die Schiiten, sunnitischen Sufis und Christen gehören. Nach Angaben von Bewohnern wurden in Tal Afar und Mosul mindestens sechs schiitische Moscheen gesprengt sowie vier Gräber von Sufi-Heiligen verwüstet, zu denen die Gläubigen pilgerten. Die Terrorgruppe habe diese Einrichtungen als „heidnische Tempel“ bezeichnet, berichtete das irakische Nachrichtenportal al-Mada.

In Westen von Mosul, dem Al-Mushahada Wohnviertel, hatten acht Tage zuvor noch dutzende beherzte Männer, Frauen und Kinder eine Menschenkette um das Scheich Fathi Mausoleum gebildet und so seine Zerstörung zunächst verhindern können. Doch die Gotteskrieger kamen wieder. Am Samstag sprengten sie den Bau von 1760 mit seinem fein ziselierten Minarett in die Luft.

Auch die chaldäische und syrisch-orthodoxe Kathedrale brachten die Extremisten in ihre Gewalt, rissen die Kreuze an den Gebäuden herunter und ersetzten sie durch ihre schwarze Kampfflagge. Seit einer Woche befinden sich zwei Ordensschwestern und drei von ihnen betreute Waisenkinder in der Hand der Terroristen. Der chaldäische Patriarch Louis Sako wandte sich in einem dramatischen Appell an die Entführer und erklärte, die Christen seien keine Partei in den gegenwärtigen Ereignissen. „Wir haben 14 Jahrhunderte lang mit den Muslimen Seite an Seite gelebt. Und wir wollen weiterhin mit ihnen sprechen und zusammen leben.“