Plettenberg. . Das erste Schuljahr an einer regulären Grundschule wurde für den lernbehinderten Max zu einer Tortur. Um ihrem Sohn das Lachen wieder zu ermöglichen, meldete ihn seine Mutter bei einer Förderschule an. Jetzt macht sich Tina Brune für den Erhalt der Förderschulen in NRW stark.

„Wenn jemand schlecht in Mathe ist, kriegt er Nachhilfe. Wenn jemand lernbehindert ist, muss er gefördert werden. Eine Förderschule kann das besser als jede Regelschule.“ Tina Brune kann sich eine Meinung erlauben. Als Mutter eines lernbehinderten und entwicklungsverzögerten Sohnes hat die 34-Jährige beide Schulformen kennengelernt.

Für ihren Sohn Max entwickelte sich das erste Schuljahr auf einer regulären Grundschule zum Albtraum. Das fröhliche Kind wurde zum ausgegrenzten, traurigen Jungen. Jetzt hat Tina Brune eine Initiative zum Erhalt der Förderschulen in NRW ins Leben gerufen. Inklusion, so wie sie hier umgesetzt werden soll, lehnt die Mutter ab.

Obwohl Max erst mit fünf Jahren zu sprechen begann, wurde sein Förderbedarf bei der Schuleingangsuntersuchung nicht erkannt. Doch schon nach den ersten Schulstunden stellte sich heraus, dass der Junge überfordert war. „Egal ob er zur Schule ging oder nach Hause kam, er weinte immer. Er konnte nicht mit dem Druck umgehen, Hausaufgaben zu erledigen“, erzählt Tina Brune.

Ohne Erfolgserlebnis

Max hatte kein Erfolgserlebnis. Er scheiterte in allen Lernfächern. Für den damals gerade sieben Jahre alten Jungen stand schnell fest: „Ich kann nichts. Ich bin dumm.“ Als die Klassenlehrerin der Mutter ein verhageltes Diktat des Sohnes zeigte, zog diese die Notbremse.

660 Millionen Euro für neue Lehrer

Behinderte Schüler in NRW haben ab nächstem Schuljahr ein Recht auf gemeinsamen Un­terricht mit Nichtbehinderten, zunächst in den Klassen 1 bis 5. Ei­ne UN-Konvention verpflichtet Deutschland zur Inklusion.

Die Bertelsmann-Stiftung hat errechnet, dass bundesweit 660 Millionen Euro für neue Lehrer bereitgestellt werden müssten. Hinzu kommt Geld für Integrationskräfte und Umbauten.

In NRW bedeutet Inklusion ab dem 1. August, dass Klassen mit behinderten Kindern stundenweise Förderkräfte zur Verfügung gestellt werden.

Max hatte den Satz „Das Pferd Flori“ mit „A S e a O“ zu Papier gebracht. Während die Lehrerin wohlwollend von wiedererkannten Wortteilen sprach, dachte Tina Brune: „Stopp. Mein Sohn ist kein Versuchskaninchen. Der ist hier einfach überfordert.“ Sie meldete ihn in der Vier-Täler-Schule in Plettenberg im Sauerland an, einer Förderschule für Lernbehinderte. „Seitdem ist mein Sohn glücklich und geht gerne zur Schule.“

Online-Petition ins Leben gerufen

Seitdem macht sich Brune für den Erhalt der Förderschulen stark, hat eine Online-Petition ins Leben gerufen, die bereits von 8500 Menschen in NRW unterzeichnet wurde. „Frau Löhrmann, erhalten Sie die Förderschulen!“, richtet sie mit ihrer Elterninitiative Lernen NRW einen Appell an die Schulministerin. Denn die Förderschule ist ein Auslaufmodell.

Zur Petition

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Wenn zum 1. August das neue Schulgesetz in Kraft tritt, sollen behinderte Kinder zunächst die Klassen 1 bis 5 einer Regelschule besuchen. Darauf haben sie dann einen Rechtsanspruch. Gleichzeitig wird für die Förderschulen eine Mindestschülerzahl festgesetzt. Wird diese unterschritten, wird die Schule geschlossen. Ausnahmen werden nicht mehr genehmigt.

„Das hätte dann nichts mehr mit Wahlfreiheit zu tun. Auf der einen Seite orientiert sich die Politik auf die Regelschule und entzieht den Förderschulen die Kinder. Gleichzeitig führt man für diese die Mindestschülerzahl ein“, so Brune. Auf lange Sicht wird das Sterben dieser teuren Schulform eingeleitet.

Diese Vorstellung löst bei Inklusionskritikern große Sorge aus. „Hier wird zu Unrecht ein Gegensatz von Förderschulen und Inklusion aufgebaut. Wir geben den Kindern die Förderung, damit sie später im außerschulischen Leben bestehen können“, sagt Peter-Paul Marienfeld, Leiter der Vier-Täler-Schule in Plettenberg.

Fusion fürs Überleben

Um zu überleben, fusioniert die Vier-Täler-Schule in Plettenberg mit einer Förderschule im 25 Kilometer entfernten Lüdenscheid. Denn als Filiale muss sie nicht mehr 144, sondern 72 Schüler nachweisen. „Bleibt die Politik bei ihrer Mindestgrößen-Regel, werden drei Viertel aller Förderschulen schließen müssen“, sagt Marienfeld.

Max aus Plettenberg ist heute acht. Sein erstes Schuljahr hat ihn traumatisiert, sagen seine Lehrer aus der Förderschule. „Wenn er etwas Neues lernt und im Unterricht aufgerufen wird, fängt er an zu stottern und wird panisch“, sagt seine Mutter. In der Regelschule sei ihm ständig bewusst geworden, was er alles nicht könne – und das vor 25 Mitschülern, die ihn dafür auslachten. „So etwas hinterlässt Spuren.“

Ganz anders erlebt es der blonde Junge an der Vier-Täler-Schule. In einer achtköpfigen Lerngruppe rennt er von Erfolg zu Erfolg. Er wird gelobt. Er lernt mit Spaß und hat inzwischen Lesen gelernt.

„Soziales Lernen ist wichtig“

„Der gemeinsame Unterricht an Regelschulen reicht mit seinen zwei bis drei Förderstunden in der Woche nicht aus, um jedem betroffenen Kind gerecht zu werden“, sagt Tina Brune. Sie befürwortet Inklusion – aber nur, wenn die Schulen dafür ausgestattet sind.

Auch für Schulleiter Marienfeld steht fest, dass der bloße Besuch einer Regelschule aus einem behinderten Kind noch lange keinen Überflieger macht. „Soziales Lernen ist wichtig“, findet Peter-Paul Marienfeld. Er befürchtet jedoch, dass behinderte Schüler zu bloßen Objekten werden. „Das darf nicht sein.“