Kommen wir zu Europa und der Finanzkrise. Welche Lehren ziehen Sie?
Angela Merkel: Europa muss die Gründungsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion beheben und sich an die Regeln halten, die es sich selbst gesetzt hat.
Das gilt aber auch für Deutschland.
Selbstverständlich. Es gibt so viele Beschlüsse auf europäischer Ebene, die von vielen Staaten auch Jahre später noch nicht umgesetzt werden, zum Beispiel den, dass wir drei Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für Forschung ausgeben wollen. Deutschland übrigens liegt hier bei fast genau drei Prozent.
Und eine weitere Lehre?
Dass Einigkeit und Geschlossenheit zum Erfolg führen. Die Finanzmärkte haben die Eurokrise zu einer großen Bewährungsprobe für uns alle gemacht. Die Euroländer hatten ihnen durch eigene Fehlentwicklungen natürlich auch Ansatzpunkte dafür geboten. Die extreme Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gaben Finanzinvestoren die Möglichkeit, den Euro anzugreifen. Doch dahinter stand die übergreifende Frage, ob die Staaten, die der Euro verbindet, zusammenhalten oder nicht. Wir haben bewiesen, dass wir zum Euro stehen, dass er uns mehr als nur eine gemeinsame Währung bedeutet. Die Krise hat uns eine neue Geschlossenheit gegeben. Hier in Deutschland haben sich darüber hinaus die manchmal durchaus auch mühsamen Verhandlungen mit dem Parlament bewährt. Da war viel Kompromissfähigkeit gefragt, und alle Seiten haben sie aufgebracht.
Ist die Euro-Krise überstanden?
Wir haben eine gute Wegstrecke zurückgelegt, sehen viele Fortschritte gerade auch in den am schwersten betroffenen Ländern – aber am Ziel sind wir längst noch nicht. Wir können die hohe Jugendarbeitslosigkeit nicht hinnehmen, wir müssen noch viel für unsere wirtschaftliche Stärke und Wettbewerbsfähigkeit tun, damit zukunftsfähige Arbeitsplätze für die jungen Menschen entstehen.
Bei den Wahlen gewinnen offenbar die nationalistischen und anti-europäischen Strömungen an Zustimmung. Die Wahlbeteiligung wird wahrscheinlich wieder unter 50 Prozent liegen. Wie wollen Sie den europäischen Geist beleben?
Ich betone im Wahlkampf immer wieder die Bedeutung der Wahlbeteiligung. Das vereinte Europa, und das zeigt die aktuelle Krise um die Ukraine aufs Neue, ist für uns alle von unschätzbarem Wert. Die Generationen vor uns mussten noch in Kriege ziehen. Wir gestalten die Zukunft unseres Kontinents heute friedlich, und jeder Wähler kann dazu am 25. Mai seine Meinung frei ausdrücken.
Wird es nicht Zeit für eine europäische „Ruck-Rede“?
Ich habe noch nie etwas von dem einen Paukenschlag gehalten, mit dem alles gesagt oder getan sein soll. Die Realität ist anders. Viel wichtiger ist es, den Menschen täglich zu vermitteln, dass wir in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand leben und dass wir uns das von Generation zu Generation immer wieder neu erarbeiten müssen. Uns Deutschen wurde nach dem 2. Weltkrieg die Hand gereicht. Wir haben sie angenommen und unseren Beitrag zu Europa geleistet. Gerade wir sollten das Friedenswerk Europas hoch schätzen. Wir hätten die deutsche Einheit niemals bekommen, wenn wir nicht in eine gute Nachbarschaft fest eingebunden gewesen wären. Auch wirtschaftlich nützt uns als Exportnation der europäische Binnenmarkt enorm. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die EU. Es gibt so viele Gründe, um aus Überzeugung zu sagen, dass Europas Schicksal auch unser Schicksal ist. Auch Deutschland wird es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht. Und nur als vereintes Europa haben wir eine starke Stimme in der Weltpolitik, können wir für unsere Werte und Interessen werben.
Das sehen die Anti-Europäer aber anders.
Wo es berechtigte Kritik an der Europäischen Union gibt, müssen wir sie ernst nehmen und gegensteuern. Die EU ist nicht für die Lösung der Probleme da, die eher vor Ort gelöst werden könnten. So wie wir national immer wieder Debatten führen, was in unserem föderalen System auf welcher Ebene bearbeitet werden soll, so müssen solche Debatten auch in Europa ganz normal werden.