Ankara.
Mit ungewöhnlich kritischen Worten hat sich Bundespräsident Joachim Gauck gestern bei seinem Staatsbesuch in der Türkei zu Gefahren für die demokratischen Grundrechte geäußert und damit zugleich deutliche Kritik am Kurs von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geäußert. Er beobachte mit Sorge Tendenzen, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu beschränken.
Türkische Bürgerrechtler sahen der Rede des Bundespräsidenten mit großen Erwartungen entgegen. Sie erhofften sich Zuspruch bei der Verteidigung der Grundrechte, die sie durch den zunehmend selbstherrlichen und autoritären Regierungsstil von Ministerpräsident Erdogan eingeschränkt sehen. Und Gauck enttäuschte sie nicht. Der Bundespräsident ging sogar so weit, von einer Gefährdung der Demokratie zu sprechen. Gauck sagte, er wolle sich zwar nicht in innere Angelegenheiten der Türkei einmischen. Er unterstrich aber auch: „Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn ich den Rechtsstaat in Gefahr sehe – auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist.“
So deutlich wie der deutsche Bundespräsident hat noch kein ausländischer Staatsgast Erdogan die Leviten gelesen. Detailliert ging Gauck die Liste der Themen durch, die für „Erbitterung, Enttäuschung und Empörung“ sorgen: Vorschriften für die Bürger, wie sie zu leben hätten, Bespitzelung durch die Geheimdienste, Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten, die Internetzensur, die Versetzung unliebsamer Staatsanwälte, Repressalien gegen kritische Journalisten. Seine eigene Lebenserfahrung, so Gauck, habe ihn gelehrt: „Wo die freie Meinungsäußerung eingeschränkt wird, wo Bürger nicht ausreichend informiert, nicht gefragt und nicht beteiligt werden, wachsen Unmut, Unerbittlichkeit und letztlich auch die Bereitschaft zur Gewalt.“
Nicht an der richtigen Adresse
Schon am Mittag, bei einem gemeinsamen Pressetermin mit dem türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, hatte Gauck Klartext gesprochen – deutlicher, als es seine Gastgeber wohl erwarteten. Ob man denn Twitter und YouTube verbieten müsse, fragte Gauck. Nach dem Thema Meinungsfreiheit widmete sich Gauck der Gewaltenteilung, wieder in Form einer Frage: Warum denn eine „so starke Regierung“ versuchen müsse, die Justiz zu beeinflussen? „Wird das die Demokratie befördern?“ Solche Fragen müsse man sich zumuten, sagte der Bundespräsident.
Bei Gül war er damit allerdings nicht ganz an der richtigen Adresse. Angesprochen fühlen durfte sich vielmehr Ministerpräsident Erdogan. Schließlich hatte Gül trotz der Twitter-Sperre demonstrativ weiter Kurznachrichten über den Dienst verschickt und dann das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts zur Aufhebung der Twitter-Sperre gelobt. Er sei „stolz“ auf diesen Richterspruch, sagte Gül – während Erdogan trotzig erklärte, er müsse das Urteil zwar notgedrungen umsetzen, respektiere es aber nicht. Zu Erdogans Versuchen, missliebige Richter und Staatsanwälte an die Kette zu legen, hatte Gül ebenfalls Distanz erkennen lassen.
Nach dem Treffen mit Gül standen ein Gespräch und ein Mittagessen mit Erdogan auf dem Programm des Bundespräsidenten. Bei der Begrüßung wirkten die beiden Männer noch entspannt. Das könnte sich im Laufe des Gesprächs aber geändert haben. Von Erdogan weiß man, dass er auf Kritik zunehmend dünnhäutig reagiert.