Essen. . In Deutschland und Europa ist Menschenhandel ein Milliardengeschäft. Der Autor Michael Jürgs fordert: Geht den Hintermännern ans Geld! Wir haben im Interview mit ihm darüber gesprochen, was den Menschenhändlern schaden könnte.

Auch in Europa blüht der Sklavenhandel. Die Hintergründe beschreibt der Autor Michael Jürgs in seinem neuen Buch. Er sagt: „Mit Menschenhandel werden allein in Europa 15 bis 18 Milliarden Euro pro Jahr erwirtschaftet.“ Mit Jürgs sprach Irene Jung.

Moderne Sklaverei ist ein weiter Begriff. Was fällt für Sie darunter?

Michael Jürgs: Dazu gehören für mich die Arbeitssklaven, die meist aus Osteuropa kommen und hier vor allem in der Fleisch verarbeitenden Industrie, im Hotelgewerbe, aber auch – wie vor einem halben Jahr – in der Werft in Papenburg für Hungerlöhne schuften müssen. Zweitens die Frauen, die in die Zwangsprostitution verschleppt, misshandelt und in Bordelle gezwungen werden. Drittens gehört ganz sicher der Kinder- und Organhandel dazu. Hunderttausende Menschen, die aus Syrien oder Libyen fliehen und in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer landen, haben nichts mehr außer der eigenen Familie und dem eigenen Leib. Viele fallen auf Händler herein, die für die Kinder eine scheinbare Zukunft versprechen oder eine Niere kaufen.

In welchen Regionen gehen Menschenhändler auf Sklavenjagd?

Michael Jürgs: Die alten Transferwege der Sklaverei gibt es auch heute. In Westafrika werden Menschen mit falschen Versprechungen angelockt und an die Mittelmeerküste gebracht. An einem Schiff mit solchen Flüchtlingen verdienen kriminelle „Schleuser“ bis zu 180 000 Euro pro Ladung. In Armutsländern wie Moldawien oder Bulgarien versprechen spezielle „Agenturen“ Jobs in Ungarn, Tschechien, Israel, Jordanien oder Südkorea. Den Männern stellt man gut bezahlte Jobs auf dem Bau in Aussicht, den Frauen in der Gastronomie, als Kindermädchen oder Model. Sie müssen ihre Schulden dann für die Schleuser abarbeiten. Wer sich wehrt, wird misshandelt und kriegt nichts. Am schlimmsten sind junge Frauen betroffen, die in Bordellen landen.

In welchen Ländern werden die Sklavenarbeiter vor allem eingesetzt?

In Katar schuften sie für die Fußball-Weltmeisterschaft, 16 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche, und fast täglich gibt es tödliche Arbeitsunfälle.

Michael Jürgs: Aus Italien kam vor zwei Monaten die Nachricht, dass sieben Chinesen in einer der Textilfabriken verbrannt sind. Im Textilgewerbe der Toskana, schätzt das Arbeitsministerium, sind etwa 40 000 chinesische Arbeiter unter menschenunwürdigen Umständen beschäftigt, rund 10 000 von ihnen illegal. Mitten in Europa. Wir hatten die „Zimmermädchenaffäre“ in deutschen Hotels, als Subunternehmen Zimmermädchen für drei Euro die Stunde vermittelten. Und unsere Spreewaldgurken werden auch von rumänischen Arbeitssklaven geerntet, die oft für Hungerlöhne arbeiten.

Warum lässt sich in Deutschland heute mit Menschenhandel Geld verdienen?

Michael Jürgs: Der Menschenhandel hat mit dem Ende des Kalten Kriegs einen Aufschwung genommen, vorher waren die Grenzen dicht. Heute haben wir in den 28 Ländern der EU offene Grenzen, allein in Berlin sollen 100 000 Illegale leben. Darunter sind nicht nur nette Menschen, sondern natürlich auch albanische, türkische, tschetschenische Banden, die vom Menschenhandel leben. Behörden wie Frontex und unsere Bundespolizei stehen vor einem riesigen Problem. Ich glaube, wir haben darauf eine zu innenpolitische Sicht. Wir regen uns auf, wenn es um die Höhe von Hartz IV geht, aber das ist im Vergleich zum Problem der modernen Sklaverei geradezu lächerlich.

In deutschen Bordellen werden oft Zwangsprostituierte aus Osteuropa entdeckt. Wie viele Frauen sind davon bundesweit betroffen?

Michael Jürgs: Genau kann das niemand beziffern. Es gibt ein riesiges Dunkelfeld. Man weiß nicht, ob es 200 000 oder 400 000 Prostituierte in Deutschland gibt, weil sie sich nicht immer anmelden. Man weiß also auch nicht, ob davon 60, 70 oder 80 Prozent Zwangsprostituierte sind. Fündig werden die Ermittler auch in den Wohnmobilen an Landstraßen und auf dem Straßenstrich.

Was müsste sich ändern, um den Menschenhändlern zu schaden?

Michael Jürgs: „Folge der Spur des Geldes“ ist oft die beste Devise. Die italienischen Mafia-Jäger beschlagnahmen die Vermögen, Immobilien und Autos der Verdächtigen, die Besitzer müssen dann nachweisen, dass sie sie legal erworben haben. Bei uns hat die Staatsanwaltschaft die Beweislast. Zweitens müssten die Gerichte im Rahmen der bestehenden Gesetze die Höchststrafen anwenden. Zu viele Richter begnügen sich damit, nur wegen Geldwäsche zu verurteilen statt wegen Menschenhandels, weil das umständlicher und langwieriger ist.