Ankara. .

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan führt einen Krieg. Es ist ein Krieg gegen das eigene Volk. Nachdem Erdogan seit dem vergangenen Sommer regierungskritische De­monstranten auf den Plätzen und Straßen der Türkei brutal zusammenprügeln lässt, ist das neue Schlachtfeld dieses Krieges nun das Internet.

Das versuchte Verbot des Kurznachrichtendienstes Twitter, über den sich die Regierungsgegner organisieren, ist wohl nur der erste Schritt. Soziale Netzwerke wie Facebook betrachtet Erdogan als „Plage“ und „schlimmste Bedrohung der Gesellschaft“. Vor allem aber das Videoportal YouTube steht auf der Zensurliste des Premiers, denn dort werden seit Wochen kompromittierende Telefonmitschnitte verbreitet, die zu belegen scheinen, wie tief Erdogan und seine Familie in die Mitte Dezember bekannt gewordenen Korruptionsaffären verstrickt sind.

Einige Tondokumente hat Erdogan als authentisch bestätigt, die krasseren bezeichnet er als Montagen, andere seien „illegal zustande gekommen“, erklärt der Ministerpräsident – und attestiert damit indirekt ihre Echtheit.

In jedem anderen demokratischen Land hätte ein Regierungschef, der so schwer belastet ist, seinen Rücktritt erklärt. Oder das Parlament hätte ihm das Vertrauen entzogen. In der Türkei gelten offensichtlich andere Regeln. Zwar gärt es in der Regierungspartei AKP, aber noch scheint der zunehmend autoritär agierende Erdogan die Partei im Griff zu haben.

Der Mehrzahl seiner Anhänger sind die Korruptionsvorwürfe gleichgültig. Auch Twitter und YouTube werden die meisten AKP-Wähler nicht vermissen. Die Kernklientel der Partei sind die frommen, konservativen Anatolier. Sie verehren Erdogan als Vater des türkischen Wirtschaftswunders. In seinen elf Regierungsjahren hat sich die Kaufkraft der türkischen Durchschnittsfamilie verdoppelt.

Das erklärt, warum Erdogan den Kommunalwahlen am kommenden Sonntag relativ gelassen entgegensieht. Seiner AKP mögen Verluste drohen, aber niemand zweifelt daran, dass sie stärkste Partei bleibt. Die meisten Wähler werden der Partei die Treue halten. Denn Erdogan ist einer von ihnen. Stolz spricht er selbst von sich als einem „schwarzen Türken“, im Gegensatz zu den „weißen Türken“, der westlich geprägten, bürgerlichen Elite, die seit Gründung der Republik 1923 das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben der Türkei dominierte – bis zum ersten Wahlsieg Erdogans 2002. Seither konnte er bei jeder Wahl seinen Stimmenanteil ausbauen, zuletzt bei der Parlamentswahl von 2011 auf fast 50 Prozent.

Inzwischen regiere Erdogan „wie ein Sultan“, sagen Kritiker. Dass Erdogan auf Kriegsfuß mit der Meinungs- und Pressefreiheit steht, ist nicht neu. In keinem anderen Land sitzen so viele Journalisten hinter Gittern wie in Erdogans Türkei. Mit der Internetzensur verbindet der Premier offenbar die Hoffnung, die bisher über YouTube verbreiteten Korruptionsenthüllungen würden sich in Luft auflösen. Das zeigt einen erschreckenden Realitätsverlust.

Erdogan verdient die rote Karte

Bedenklicher noch ist die erkennbare despotische Mentalität. Wie soll die Europäische Union, die seit 2005 mit der Türkei über einen Beitritt verhandelt, damit umgehen? Bisher konnte man die Ansicht vertreten, Europa müsse mit Ankara im Gespräch bleiben, um den Reformprozess am Leben zu halten. Doch dieses Argument wird immer fragwürdiger. Als Beitrittskandidat hat sich die Türkei verpflichtet, europaweite Grundrechte zu achten. Davon kann keine Rede mehr sein. Europa darf dem Abbau des Rechtsstaates und der Meinungsfreiheit in der Türkei nicht zusehen. Erdogan verdient die rote Karte: Die Beitrittsverhandlungen müssen ausgesetzt werden - bis Ankara auf den Weg der Demokratie zurückkehrt.