Berlin. Kürzungen der Hartz IV-Bezüge seien unmenschlich, sagt Inge Hannemann und fordert die Abschaffung aller Sanktionen. Die Jobcenter-Mitarbeiterin war wegen ihrer kritischen Haltung von ihrem Arbeitgeber suspendiert worden. Jetzt war ihre Forderung Thema im Bundestag.

Inge Hannemann sieht eigentlich nicht so aus, wie man sich vielleicht eine Rebellin vorstellt. Zierlich ist die 45-Jährige mit dem Kurzhaarschnitt, die jünger wirkt, als sie ist. Seit gut einem Jahr bekämpft sie nicht weniger als ein ganzes System: Inge Hannemann fordert die Abschaffung von Sanktionen gegen Hartz IV-Empfänger. 90.000 Menschen haben ihre Petition unterschrieben, die es am Montag gar als Ausschussthema in den Bundestag geschafft hat.

„Wir leben in einem Sozialstaat, der Menschen in die Obdachlosigkeit zwingt“, sagt sie. Äußerungen wie diese haben ihr den Spitznamen „Hartz-Rebellin“ eingebracht – aber auch eine Suspendierung: Denn Inge Hannemann ist selbst Mitarbeiterin in einem Hamburger Jobcenter. Im April 2013 hat ihr Arbeitgeber sie freigestellt.

„Solche Strafen schüren nur Ängste“

Immer wieder hatte sich Inge Hannemann geweigert, Arbeitslosen das Geld zu kürzen, weil sie Termine nicht wahrgenommen oder Jobangebote ausgeschlagen hatten. „Solche Strafen schüren nur Ängste und führen nicht dazu, dass Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden“, sagt sie.

Sie habe es als Jobcenter-Mitarbeiterin nicht mehr hinnehmen können, die „Keule der Geldkürzung“ nutzen zu müssen. Anstelle von Druckmitteln bräuchten Jobcenter-Mitarbeiter mehr Zeit für ihre Kunden. „Intern wird nicht auf die Menschen geschaut. Da fragt keiner, warum jemand vielleicht nicht zum Termin gekommen ist, sondern es wird einfach sofort sanktioniert. Das macht mich zornig.“

Das „Sanktionsregime“ der Jobcenter entmündige die Bürger. „Wieso müssen sich Erwachsene behandeln lassen, als seien sie kleine Kinder?“ Dass Arbeitslose Weiterbildungsmaßnahmen oder Jobangebote verweigerten, sei oftmals nur allzu verständlich. „Wenn jemand zum fünften Mal zu einem sinnlosen Computerkurs verdonnert wird, ist es doch klar, dass er resigniert.“

Diabetiker kann sich kein Insulin mehr leisten

Besonders schlimm sei, dass die Jobcenter Hartz IV-Empfängern die Existenzgrundlage entziehen könnten. Sie habe Hunderte E-Mails von Betroffenen gesammelt, die sich hilfesuchend an sie gewandt hatten. Ein Mail nehme sie besonders mit, sagt sie und erzählt mit zitternder Stimme vom Fall eines Diabetikers, der sich nicht einmal mehr sein Insulin leisten kann, seit er kein Geld mehr vom Staat bekommt.

„Der Mann hat einen Behinderungsgrad von 90 Prozent und hat einen Job abgelehnt, den er nicht ausführen kann.“ Jetzt sei ihm das komplette Arbeitslosengeld gestrichen worden – und damit auch der Krankenversicherungsschutz. „Er hat mich gefragt, ob ihm jetzt nur noch der Suizid bleibe. Ich habe wirklich Angst, dass dieser Mensch sich demnächst von einer Brücke stürzt“, sagt Hannemann. Natürlich sei das ein Extrem-, aber keineswegs ein Einzelfall. „Durchschnittlich 10.000 solcher Vollsanktionen gibt es jedes Jahr. Das ist unmenschlich.“

Verwaltungsaufwand kostet zehn Millionen Euro

Letztlich rechne sich dieser Umgang mit Hartz IV-Empfängern auch rein wirtschaftlich nicht, rechnet Hannemann vor: „Der Verwaltungsaufwand für die Bescheide kostet den Staat jährlich etwa zehn Millionen Euro.“ Das Geld könne man eher in besser Schulungen der Jobcenter-Mitarbeiter investieren.

Am Ende gibt es Applaus für die Rebellin. Dutzende Hartz IV-Gegner hatten sich auf die Besuchertribüne im Ausschuss-Saal gedrängt. Einer von ihnen ist Veit Pakulla. Der 34-Jährige hat Erfahrung mit der Sanktionspolitik der Jobcenter. Weil er eine Weiterbildungsmaßnahme nicht antreten wollte, hatte man ihm die Bezüge gekürzt. „Das war eine Sinnlos-Maßnahme, die mir nichts gebracht hätte. Man muss ja nicht alles machen“, findet der 34-Jährige.  

Es gibt keinen Mittelweg

Und Inge Hannemann will weiterkämpfen. Dass ihr Thema jetzt auch in der Politik diskutiert werde, sei schon mal ein erster Schritt. Ob sie sich denn vorstellen könne, selbst wieder in ihrem alten Job zu arbeiten? „Ich will definitiv in mein Büro zuück, denn die eigentlich Arbeit mit den Menschen macht mir sehr viel Spaß“, sagt sie, die sich ihren Arbeitsplatz derzeit vor Gericht zurück erkämpfen will.

Von ihrer Ansicht zu Hartz IV werde sie allerdings nicht zurückweichen, einen „Mittelweg“ gebe es nicht: „Die Sanktionen gehören abgeschafft.“