Simferopol. .
Über die Fernstraße M 18 tobt Sturmwind, schneidend kalt und so tückisch, dass sich selbst die blaugelben ukrainischen Fahnen nicht entscheiden können, ob sie nordwärts, Richtung Kiew, oder südwärts Richtung Krim flattern sollen. „Kommt Mädchen“, ruft Tatjana Belezkaja, die Dorfvorsteherin, „Frauen nach vorne!“ Die „Mädchen“, in der Mehrzahl kräftige Landfrauen über 40, schreiten mutig vorwärts, sie skandieren jetzt: „Die Krim ist Ukraine“. Und sie halten Schilder: „Mamas gegen den Krieg.“ Oder: „Jungs, macht Frieden!“
Die Jungs an der Straßensperre denken nicht daran. Baumlange, maskierte Krieger mit gezückten Kalaschnikows bauen sich vor den Betonklötzen auf. Einer hebt die Waffe und winkt wütend: Zurück!
Gut 200 von 3000 Einwohnern des Dorfes Tschongar auf der Landenge zwischen der südukrainischen Region Cherson und der Schwarzmeerhalbinsel Krim demonstrieren gegen das drohende große Blutvergießen. „Unsere Eltern und Großeltern haben hier einen fürchterlichen Krieg erlebt“, sagt Dorfchefin Belezkaja. „Das wollen wir nicht noch einmal.“ Die Leute demonstrieren auch gegen die russische Militärintervention auf der Krim und die geplante Volksabstimmung über die Wiedervereinigung mit Russland.
„Ich will in der Ukraine bleiben“
Zum ersten Mal seit dem Zerfall Jugoslawiens droht Europa ein großer Krieg. Erst besetzten fremde Soldaten das Parlament der Krim, dann beschloss dieses den staatlichen Anschluss an die russische Föderation und eine Volksabstimmung dazu. Immer neue Kolonnen russischer Militärfahrzeuge tauchen auf der Krim auf, haben zahlreiche ukrainische Garnisonen dort eingeschlossen, ein US-Flugzeugträger ist ins Schwarze Meer eingelaufen.
Russland leugnet den Einmarsch, dabei sausen russische „Tiger“-Jeeps über die Ausfallstraßen von Simferopol. Aus den Dachluken schauen MG-Schützen mit starren Besatzerblicken an den mit blaugelben Luftballons bewaffneten Menschenketten vorbei, die jetzt für Frieden und Ukraine demonstrieren.
Manchmal ist Simferopol in diesen Tagen sehr laut. Tausende, Krimtataren, Ukrainer und Russen, singen auf der Straße die ukrainische Nationalhymne, Autofahrer hupen Zustimmung. „Hier, ich habe selbst einen russischen Pass“, ruft Maxim, der eine Skijacke in den ukrainischen Nationalfarben trägt. „Aber ich will in der Ukraine bleiben. Ich kenne diese Banditen.“ Wenn das Schicksal der Krim von fairer politischer Willensbildung abhinge, hätte die Ukraine Chancen. Nach einer UN-Umfrage von 2012 lag der Anteil der Krimbewohner, die für einen Verbleib bei der Ukraine sind, bei 40 Prozent, der Prozentsatz der Befürworter eines Anschlusses an Russland bei 38 Prozent. Die Führer der Krimtataren haben dazu aufgerufen, die Volksabstimmung zu boykottieren. Ihr Ergebnis, ein glatter Sieg für den Beitritt zu Russland, gilt als ausgemachte Sache.
Manchmal ist Simferopol jetzt sehr still. Man geht arbeiten, einkaufen, sitzt schweigend in den Autobussen. Keine Aufregung, keine Hochstimmung. Fragt man Leute auf der Straße, sind viele für den Beitritt zu Russland, sagen, in der Ukraine habe immer Chaos und Korruption geherrscht, Putin aber sei ein strenger Herrscher. „Wir haben in der Sowjetunion doch so gut gelebt“, erklärt Maria, 52, Musiklehrerin.
Europa droht ein neuer Todesstreifen
Dorfvorsteherin Belezkaja verhandelt mit einem maskierten Riesen. Er trägt eine blaugraue Winterjacke mit dem Abzeichen der Berkut-Elitepolizei, deren Einheiten wegen ihrer Grausamkeiten bei den Straßenkämpfen in Kiew aufgelöst worden sind. Hinter ihm schaufelt ein Bagger einen Erdwall auf, das dünne Rohr eines eingegrabenen Schützenpanzers starrt auf den Dorfrand von Tschongar. In den Marschwiesen links und rechts der Straße schimmern Stolperdrähte, dazwischen lauern auf kleinen roten Schildern schwarze Totenköpfe: „Minenfeld. Lebensgefahr“. Europa droht ein neuer Todesstreifen.