Kiew. . In der Ukraine ist der Kampf um die Macht voll entbrannt. Sehr zum Unwillen der Protestbewegung auf dem Maidan in Kiew. Sie fordert eine Regierung aus Experten und ohne Parteifunktionäre

Das Parlament brodelt. Nach dem Sturz des Regimes von Viktor Janukowitsch verhandelt man in der Ukraine fieberhaft eine neue Koalition, mögliche Regierungschef und Minister. Und gestern begann die Anmeldefrist zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai. Die Parlamentarier streiten über die neuen Führer des Landes. Der Kiewer Politologe Wadim Karasjew erwartet dabei altbekannte Gesichter: „Auch wenn das Volk mit ihnen unzufrieden sind. Es gibt keine anderen Politiker im Lande.“

Da ist der Rechtspopulist Oleg Tjagnibok, einer der Oppositionspolitiker, die sich am aktivsten auf dem Maidan engagierten. Bei den Parlamentswahlen 2011 holte seine Partei „Swoboda“ sensationell 11%. Aber Tjagnibok und seine Mega-Patrioten gelten als korrupt, sollen 2013 laut der Zeitschrift Reporter eine halbe Milliarde Dollar von „Chevron“ für das Recht auf Schiefergasförderung in der Westukraine verlangt haben. „Noch stärker hat ihre Popularität unter ihrer fehlenden Radikalität auf dem Maidan gelitten“, sagt der Lemberger Politologe Anatoli Romanjuk.

Das gilt auch für Arseni Jazenjuk, Vorsitzender der Timoschenko-Partei „Vaterland“, wie Tjagnibok täglich auf dem Maidan. Seit er dort pathetisch verkündete, für die Freiheit lasse er sich eine Kugel in den Kopf jagen, trägt er beim Volk den Spottnamen „Kugel in den Kopf“. Im Parlament aber wird er als Favorit auf den Posten des Premierministers in der neuen Regierung gehandelt. Nur, Jazenjuk hat einen Riesenproblem: Seine Exparteichefin Julia Timoschenko. Nach ihrer Freilassung droht ihm die Entmachtung, Timoschenkos alter Intimus Alexander Turtschinow brachte es prompt zum Parlamentsvorsitzenden und Präsidenten i. O.. Während das Amt des Premiers, das Jazenjuk winkt, angesichts des drohenden Staatsbankrotts als Schleudersitz gilt.

Der dritte Parteipolitiker, der sich als Maidan-Führer versuchte, ist Wladimir Klitschko, Altboxweltmeister und Chef der christdemokratisch gestylten „UDAR“-Partei. Sein Plus: Während der Straßenkämpfe versuchte er immer wieder zu schlichten, hat sich auch unter Janukowitschs Stammwählern Respekt erworben. Außerdem ist er relativ neu in der Politik und im Gegensatz zu Tjagnibok oder Jazenjuk wenig skandalumwittert. Aber wie sie gilt er den Revolutionären als zu nachgiebig.

Die Sorgen hat Julia Timoschenko nicht. 2011 hatte Janukowitsch die Ex-Regierungschefin zu 7 Jahren Gefängnis wegen angeblicher Amtsanmaßung aburteilen lassen, schon am Abend ihrer Freilassung saß die rückenkranke Timoschenko im Rollstuhl auf dem Maidan, schlug vor, Janukowitsch dort einen „Volksprozess“ zu machen. Allerdings ist auch Timoschenko umstritten. „Wieder an der Macht, wird sie Blutrache üben“, fürchtet der Kiewer Publizist Wladimir Mjapinin. Zudem steht die „Gas-Prinzessin“ selbst im Ruf, korrupt zu sein. Maidan-Aktivisten aber schimpfen, Timoschenko sei sofort nach Janukowitschs Flucht freigekommen, während zahlreiche festgenommene Revolutionäre noch immer hinter Gitter saßen.

Auch Timoschenko hat angekündigt, sie wolle Präsidentin werden. Dann nahm sie plötzlich das Angebot Angela Merkels an, sich in Berlin kurieren zu lassen. Nun rätselt man in Kiew, ob sie wirklich so krank ist. Oder ob sie angesichts der neuen Verfassung, die entscheidende Vollmachten des Präsidenten dem Parlament überlässt, nach der nicht mehr der Präsident, ihre Kandidatur noch einmal überdenken will.

Das könnte auch für den Schokoladenmagnaten und parteilosen Parlamentarier Pjotr Poroschenko gelten. Poroschenko unterstützte den Maidan finanziell, drängte sich aber nicht so vorn wie Jazenjuk oder Klitschko. Aber auch er liebäugelt mit dem höchsten Amt im Staat, voraussichtlich also dem Vorsitz im Kabinett, im nächsten oder im übernächsten.

Die Verfassung hat sich geändert, die Spielregeln im Parlament nicht. Nach Ansicht ukrainischer Experten fließt weiter Schmiergeld in Strömen. Und die Oligarchen, die hinter Janukowitsch standen, bestimmen auch jetzt die Entscheidungen. Etwa Rinat Achmetow, laut Forbes etaw 22 Milliarden Dollar reich, und Boss des Donezker Industrieklans. Oder Dmitri Firtasch, Mitbesitzer des Staatskonzerns „RosUkrEnergo“, der gemeinsame Sache mit dem Ex-Bankier und Parlamentarier Dmitri Tigipko macht. „Die Gruppe Achmetow und die Gruppe Tigipko hat im Parlament keine Verluste erlitten“, schreibt die Ukrainskaja Prawda: Auch die Abgeordneten, die jetzt die Partei wechselten, würden weiter so abstimmen, wie es die Oligarchen wünschen.

Nur der Maidan stört dass postrevolutionäre politische Treiben. Weiter versammeln sich dort zehntausende Menschen, kampieren Hundertschaften bewaffnete Aufständische. Und ihr Unmut wächst. „Wir wollen nicht die alten Schmiergeldabzocker in der Regierung, wir wollen junge Ökonomen, Hochschulabgänger oder Professoren“, fordert Alexander Sibirzew, Kiewer Maidan-Aktivist. „Die Regierung soll aus anerkannten Fachleuten mit tadelloser Reputation gebildet werden, nicht aus Parteifunktionären“, heißt es in einer Erklärung des „Volksvertrauensrats“ des Maidans. Der Maidan betrachtet sich inzwischen als Parallelparlament, jederzeit bereit zu neuen Massenprotesten gegen die professionelle Politik.

Schon hat Dmitri Jarosch, Mitglied des Volksvertrauensrats und Führer der nationalistischen „Rechten Sektors“, zu verstehen gegeben, sein Straßenkämpferverband wolle im neuen Kabinett die Sicherheitsorgane kontrollieren. Dort könnten wirklich mehr neue Gesichter auftauchen, als der jetztigen politische Elite liebt ist.