Kiew. . Eskalation in Kiew: Die ukrainische Staatsmacht hat Scharfschützen gegen die Demonstranten eingesetzt. Die zählte dutzende Tote. Viele der Opfer seien jeweils mit einem Schuss gezielt getötet worden. Unklar war zunächst, welches Ministerium den Befehl zum gezielten Töten gab.

Unter dünnem, weißen Stoff liegen sieben Körper aufgereiht, das zu kurze Leichentuch kann Köpfe und Füße nicht bedecken. Blutlachen sind am Boden vor der Rezeption im Hotel Ukraina zu sehen – nur wenige Stunden nach dem „Waffenstillstand“, den der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ausgerufen hatte. Die angebliche Waffenruhe endete am Donnerstag in der Hauptstadt Kiew in einem Blutbad: Dutzende Demonstranten wurden laut Opposition im Zentrum der Stadt getötet – viele wohl gezielt durch einen einzigen Schuss.

Die Demonstranten versuchen verzweifelt, sich mit Helmen und selbst gebauten Schilden vor den Kugeln zu schützen. Immer wieder sinken einige getroffen zu Boden und werden von ihren Mitstreitern hektisch aus dem Schussfeld gezogen. Die Szenen erinnern an einen Bürgerkrieg. Im Internet kursieren Videos von mutmaßlichen Scharfschützen.

Hunderte bewaffnete Demonstranten griffen am Donnerstagmorgen die Polizei an, die ihrerseits zurückschoss. In den provisorisch eingerichteten Leichenhallen der Opposition wie im Hotel Ukraina, das die Demonstranten zu einem Krankenhaus umfunktioniert haben, sind die Todesopfer zu sehen. Eine Rot-Kreuz-Fahne weht über dem stalinistischen Gebäude am Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, den tausende Oppositionelle seit fast drei Monaten besetzt halten.

Oppositionsführer Vitali Klitschko gab die Schuld an der neuen Zuspitzung Janukowitschs Sicherheitskräften. Die gefürchtete „Berkut“-Sondereinheit habe im Morgengrauen begonnen, die besetzte Musikakademie am Rande des Maidan anzugreifen, erklärte Klitschko.

Die Demonstranten wurden danach zeitweise vom Platz der Unabhängigkeit im Zentrum Kiews verdrängt. Doch gelang ihnen wenig später die Rückeroberung. Oppositionelle Internetseiten berichteten von der panischen Flucht vieler „Berkut“-Truppen. Am Vormittag drangen Kämpfer der Opposition auch zum Ministerkabinett und Parlament vor. Beide Gebäude wurden evakuiert; am Abend traf sich das Parlament jedoch zu in dem Gebäude zu einer notfalls anberaumten Sondersitzung.

Die Opposition hat bei der Rückeroberung laut der ukrainischen Internetzeitung „Ukrainskaja Prawda“ 67 mit Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten „verhaftet“ und will sie offenbar als Geiseln benutzen. Das Innenministerium kündigte nachmittags an, die Polizei würde nun mit Schusswaffen ausgestattet.

Am Vormittag hatten rund 100 Soldaten der Truppen des Innenministeriums den Demonstranten ergeben. Viele schlossen sich daraufhin „dem Volk“ an, wie sie sich ausdrückten. Das Innenministerium dementierte energisch, dass es Überläufer gebe. Auf dem Maidan sprach am Nachmittag ein Leutnant der Innenarmee zu den Demonstranten. Er erklärte, er habe sein Entlassungsschreiben eingereicht. Er könne das Regime Janukowitsch nicht mehr verteidigen.

Der Ausnahmezustand wurde bis zum Abend anders als erwartet nicht ausgerufen. Offenbar lag das an den Gesprächen der drei EU-Außenminister aus Deutschland, Polen und Frankreich, Sikorski, Steinmeier und Fabius mit Präsident Janukowitsch, meinen Beobachter. Die EU-Minister verlängerten ihren Besuch am Abend. Janukowitsch führte zwischen den Treffen ein Telefongespräch mit Rullands Präsidenten Putin – wohl um sich zu beraten. Am Abend schlug das EU-Trio einen Fahrplan für eine politische Lösung im Machtkampf vor. Danach sollen eine Übergangsregierung gebildet, eine Verfassungsreform begonnen und Parlaments- und Präsidentenwahlen abgehalten werden.