Kiew. . Die angespannte Lage auf dem Unabhängigkeitsplatz der ukrainischen Hauptstadt eskaliert. Scharfschützen lauern auf den Dächern. Viele Verletzte auf beiden Seiten. Panzer fahren auf. Das Schlimmste ist offenbar noch nicht vorbei.
In der Abenddämmerung gleicht der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, der Maidan, einer belagerten Festung. Hinter den Barrikaden warten Tausende Aufständische mit Helmen, Knüppeln und grimmigen Gesichtern auf den Angriff der Einsatzpolizei und der Soldaten des Innenministeriums. Deren vorderste Reihen sind schon in Sichtweite. Auf dem Maidan aber flattern unverdrossen blaugelbe Nationalflaggen, auf der zentralen Bühne betet ein Priester: „Stehe uns bei, heilige Gottesmutter, rette uns!“
Vitali Klitschko, einer der Oppositionsführer, beschwört die Aufständischen wie die Sicherheitsorgane, das Blutvergießen zu beenden. „Wir sind friedliche Demonstranten!“, ruft er, es klingt nicht völlig überzeugt. Klitschko, der noch am Vormittag Neuwahlen von Präsident Janukowitsch forderte, bittet die Frauen und Kinder, den Maidan zu verlassen. Viele bleiben trotzdem, einige junge Mädchen tragen selbst Sturzhelme und Baseballschläger. In den Trümmern einer der Barrikaden auf der Institutskaja Straße, die die Einheitspolizisten mit einem Wasserwerfer als Rammbock durchbrochen haben, liegt ein toter Mann.
Panzer rollen an
In Kiew tobten gestern blutige Straßenkämpfe. Morgens zogen über 50 000 Demonstranten, Tausende von ihnen mit Schildern und Helmen bewaffnet, Richtung Parlament. Dort wollten sie mit einer „friedlichen Offensive“ einen Antrag der Opposition unterstützen, zur Verfassung von 2004 zurückzukehren. Sicherheitskräfte versperrten ihnen den Weg, die Aufständischen stürmten zwei quergestellte Lkw und warfen die dort postierten Soldaten von den Ladeflächen. Es entwickelte sich eine blutige Schlacht rund um das Parlament.
Radikale Angreifer stürmten das nahegelegene Büro der Regierungspartei und zündeten es an, nach Polizeiangaben kam dabei ein Angestellter ums Leben. Einheitspolizisten vertrieben die Angreifer. Am späten Nachmittag starteten die Ordnungskräfte eine Gegenoffensive und drängten ihre Gegner bis auf den Maidan zurück. Beide Seiten beklagen Tote und unzählige Verletzte.
Chaos auch im Parlament
Auch im Parlament herrschte Chaos. Den ganzen Vormittag redeten Oppositionsparlamentarier auf Parlamentspräsident Wladimir Rybak ein, der sich weigerte, ihren Antrag auf eine Verfassungsänderung zur Abstimmung zu registrieren. Abgeordnete der Opposition blockierten aus Protest das Präsidium, gegen Mittag verließen die Parlamentarier der regierenden „Partei der Regionen“ den Sitzungssaal und machten damit ihrerseits eine Abstimmung unmöglich. Wie Klitschko gestern erklärte, sind für heute neue Verhandlungen zwischen Janukowitsch und der Opposition geplant. „Die Chancen auf eine politische Lösung werden immer kleiner“, sagt der Politologe Wadim Karasjew.
In den umliegenden Straßen bewarfen die Anhänger der Opposition derweil Polizisten mit Steinen und mit Molotow-Cocktails, mehrere Ordnungshüter standen auf Hausdächern und schleuderten Dachziegel auf die Aufständischen, TV-Kameras filmten, wie die Scharfschützen der Polizeielite-Einheit Berkut ihre Gewehre nachluden. 30 Demonstranten besetzten erneut das Rathaus in Kiew.
Laut der Nachrichtenagentur Unian erschienen auf den Seiten der Sicherheitskräfte gestern Abend mehrere Dutzend Uniformierte mit Kalaschnikow-Sturmgewehren, zwei Schützenpanzer rollten an. Es scheint, als stünde der ukrainischen Hauptstadt das Schlimmste noch bevor.