Unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat die Türkei eine beispiellose wirtschaftliche Blüte erlebt und das Militär seinen politischen Einfluss verloren. Aber er grenzt Minderheiten aus und tritt zunehmend autoritär auf. Erdogan hat das Vertrauen des Westens vielleicht für immer verspielt.

Kein Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat die Türkei so stark geprägt wie Ministerpräsident Tayyip Erdogan. Seit seinem Amtsantritt vor elf Jahren erlebte das Land eine beispiellose wirtschaftliche Blüte. Erdogan drängte den dominierenden politischen ­Einfluss der Militärs zurück und ­ebnete mit Reformen den Weg für Beitrittsverhandlungen mit der EU.

Aber Erdogan, der heute Berlin besucht, ist nun drauf und dran, sein poli­tisches Lebenswerk zu zerstören.

Erdogan grenzt die muslimische Minderheit der Alewiten aus und versucht, der Gesellschaft seine eigenen, religiös geprägten Werte aufzuzwingen. Skeptiker warnen vor einer „geheimen Agenda“ des gewendeten Islamisten, der Ende der 90er-Jahre wegen religiöser Hetze im Gefängnis gesessen hatte.

Je länger er an der Macht ist, ­desto autoritärer gibt sich Erdogan. Kritik duldet er nicht. In keinem Land sitzen so viele Journalisten hinter Gittern wie in der Türkei. 2013 wurde das Land vom Euro­päischen Menschenrechtsgerichtshof 118 Mal wegen Menschenrechtsverstößen verurteilt. Die Türkei liegt damit nach Russland auf einem unrühmlichen zweiten Platz.

Der Zorn auf den „Sultan“, wie ­Erdogan wegen seines selbstherr­lichen Regierungsstils oft genannt wird, entlud sich bei den Demonstrationen im letzten Sommer. Erdogan reagierte wie ein Despot, versuchte, die Proteste mit brutalen Polizeieinsätzen zu ersticken, ­beschimpfte die Demonstranten
als „Gesindel“ und „Nagetiere“.

Doch das System Erdogan gerät ins Wanken. Gerade wurden Korruptionsvorwürfe bekannt, die bis in seine eigene Familie hineinreichen. Gleichzeitig steht der Premier durch den Absturz der türkischen Lira vor seiner bisher größten Herausforderung.

Die Gefahr, dass aus der Währungs- eine Wirtschaftskrise wird, muss auch Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei und größten ausländischen Investor beunruhigen. Mit dem Instrumen­tarium der Geldpolitik allein wird die Krise nicht zu bewältigen sein.

Die Türkei muss vor allem Vertrauen zurückgewinnen. Ob das mit Erdogan an der Spitze möglich sein wird, mag man bezweifeln. Denn gerade er hat dieses Vertrauen verspielt.