Falludscha/Ramadi. .
Aus Lautsprechern der eroberten Moscheen dröhnen Kampfparolen. Schwarz-weiße Al-Kaida-Fahnen flattern auf öffentlichen Gebäuden. Ein halbes Dutzend Polizeiwachen liegen in Schutt und Asche, Armeeposten wurden in Panik evakuiert. Über hundert Dschihadisten konnten aus den Gefängnissen entkommen, während ihre schwarz vermummten Gesinnungsgenossen Straßensperren errichten. Seit Mitte der Woche haben El Kaidas Gotteskrieger mit Ramadi und Falludscha zwei der wichtigsten Städte des Iraks teilweise in ihre Gewalt gebracht. Beide Städte waren unter der US-Besatzung Zentren des Widerstands. Nach Angaben der Regierungsmedien wurden die ISIS-Kämpfer gestern nach heftigen Kämpfen zumindest aus den Zentren von Ramadi und Falludscha vertrieben.
Allein in Ramadi über hundert Tote
Den ganzen Tag nahmen Jagdbomber ihre Stellungen unter Feuer. Die Bodentruppen setzten von den USA gelieferte Hellfire-Raketen in den Straßenschlachten ein, die zur bisher schwersten Staatskrise des Irak seit dem Abzug der Amerikaner vor zwei Jahren eskalieren könnten. Ärzte in der 500 000-Einwohner-Stadt Ramadi sprachen bereits von über hundert Toten. Auch in Falludscha mit seinen rund 300 000 Einwohnern liegen in den Krankenhäusern nach Angaben von Augenzeugen zahlreiche Leichen und Verwundete. Verzweifelt versuchten Familien, sich aus den umkämpften Bezirken in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig registrierten UN-Diplomaten einen wachsenden Flüchtlingsstrom von Irakern über die Grenze nach Jordanien.
Denn die Al-Kaida-Brigaden des „Islamischen Staates in Irak und Syrien“ (ISIS) haben im letzten Jahr beträchtlichen Zulauf erhalten – vor allem durch den Bürgerkrieg in Syrien und durch die wachsenden Spannungen zwischen schiitischer Mehrheit und sunnitischer Minderheit im Irak. Wie im Norden Syriens, wollen die Extremisten nun auch im Westen Iraks eigene Enklaven etablieren, von denen aus sie in der ganzen Region operieren und wo sie ungestört ihre Kämpfer ausbilden können. Ähnliche Al-Kaida-Territorien gab es bisher nur im Jemen entlang der Küste des Golf von Aden. 2011 und 2012 errichtete Al Kaida dort ein Schreckensregime unter der Zivilbevölkerung, welches Hunderttausende in die Flucht trieb.
Und so gerät neben Syrien auch sein Nachbarn Irak mehr und mehr an den Rand eines neuerlichen Bürgerkrieges. Seit dem Ende der verheerenden Todesjahre 2006 und 2007 hat es im Zweistromland nicht mehr so viele Terrortaten gegeben wie im zurückliegenden Jahr 2013.
Ausgelöst wurde die jüngsten Kämpfe, als irakische Soldaten Anfang der Woche in Ramadi das seit einem Jahr existierende sunnitische Protestlager gegen schiitische Willkürherrschaft mit Waffengewalt räumten. 17 Menschen starben, die anschließenden Kämpfe breiteten sich rasch auch auf das 45 Kilometer entfernte Falludscha aus.
Sunniten fühlen sich diskriminiert
Und so trägt Iraks Regierungschef Nuri al-Maliki eine erhebliche Mitverantwortung für die brutale Polarisierung im Land, weil er sich jedem politischen Brückenschlag zum sunnitischen Lager verweigert. Immer wieder lässt er seine Spezialeinheiten gegen unliebsame sunnitische Politiker ausrücken. Kürzlich starben bei einer Kommandoaktion gegen das Haus des prominenten Abgeordneten Ahmed al-Alwani in Ramadi sechs Leibwächter sowie dessen Bruder.
40 sunnitische Parlamentarier legten daraufhin aus Protest ihr Mandat in der Nationalversammlung nieder. Für sie ist das Maß voll – ihre Minderheit fühlt sich von der schiitischen Mehrheit seit langem in unerträglicher Weise drangsaliert. Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung käme es regelmäßig zu wahllosen Massenfestnahmen, nicht nur von Extremisten, auch von unbescholtenen Zivilisten, klagte einer der lokalen Scheichs. Die Regierung habe die Lage verschlimmert, weil sie „immer mehr verzweifelte Leute produziert, die zu Al Kaida überlaufen – wegen der konfessionellen Diskriminierung und der nicht endenden Verhaftungen“.