Bonn. .
„Ende! Rücktritt BK.“ Die kurze Notiz der Sekretärin im Terminkalender verrät die Erschütterung, die der Rücktritt Willy Brandts vom Amt des Bundeskanzlers auslöste. Der am 6. Mai 1974 vollzogene Schritt markiert eine entscheidende Wende in dem an Höhen und Tiefen reichen Leben des SPD-Politikers, der vor 100 Jahren am 18. Dezember 1913 in Lübeck geboren wurde.
Schon seit Wochen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in der Bundesrepublik oder im Ausland an ihn erinnert wird. Brandt hat Weltgeschichte erlebt und gemacht: zunächst als Hitlergegner in Norwegen und Schweden, später als Regierender Bürgermeister von Berlin zur Zeit des Mauerbaus, als Außenminister in der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) und als Bundeskanzler.
Die als visionär bezeichnete „Neue Ostpolitik“, die das Verhältnis zu den kommunistischen Staaten und damit auch zur DDR entspannte, trägt die Handschrift Brandts und seines engsten Beraters Egon Bahr. Der „Kniefall von Warschau“ 1970 vor dem Mahnmal des jüdischen Ghetto-Aufstandes gilt bis heute als eine der bewegendsten Bitten um Vergebung für die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs – auch wenn viele Bundesbürger Brandts Geste zunächst für überzogen hielten. Auf internationaler Ebene fiel das Urteil schon damals anders aus: 1971 erhielt er für seine Außenpolitik den Friedensnobelpreis.
Innenpolitisch einen schweren Stand
Innenpolitisch dagegen hatte Brandt schon immer einen schwereren Stand. Als „Herrn Brandt alias Frahm“ verunglimpfte ihn 1961 Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der CDU-Politiker spielte damit auf die Tatsache an, dass Brandt seinen Decknamen aus dem Exil statt seines Geburtsnamens Herbert Frahm trug. Franz-Josef Strauß von der CSU ging noch einen Schritt weiter, als er mit Blick auf die NS-Zeit formulierte: „Eines wird man doch Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir gemacht haben.“ Verbale Tiefschläge kamen auch aus der eigenen Partei, wie das berühmt-berüchtigte Wort Herbert Wehners, Brandt bade „gern lau - so in einem Schaumbad“.
Diese abschätzige Bemerkung fiel 1973, ein Jahr nach Brandts Wiederwahl zum Bundeskanzler. Folgt man seinen Biografen, so setzten dem eigentlich starken Mann an der Spitze der Regierung solche persönlichen Angriffe immer mehr zu. Gleichzeitig vermied er die direkte Auseinandersetzung mit seinen Gegnern. Insofern war die Affäre um seinen als DDR-Spion enttarnten Mitarbeiter Günther Guillaume nur der äußere Anlass, der zu Brandts Rücktritt führte. In der Politik spielte er aber auch danach weiter vorne mit. Er behielt das Amt des SPD-Vorsitzenden bis 1987, wurde Präsident der Sozialistischen Internationale und setzte als Vorsitzender der von Weltbankpräsident Robert McNamara einberufenen Nord-Süd-Kommission neue Akzente in der Entwicklungspolitik.
Wie die Welt an der Schwelle zum 21. Jahrhundert ausschauen könnte, sollte Brandt in seinem letzten Lebensabschnitt immer wieder beschäftigen. Bei einer Audienz im Vatikan führte er 1984 vor Papst Johannes Paul II. aus, ihm schwebe eine Ordnung vor, in der die Verantwortlichen auf Kernwaffen verzichten und stattdessen ihre Ressourcen „zur Förderung eines Lebens in Würde für alle Völker und Nationen“ einsetzen.
„Ich lasse das in der Schwebe“
Weniger staatstragend kam ein später Berufswunsch Brandts daher. Deutscher Botschafter beim Vatikan sei ein Posten, der ihn noch interessiert hätte, vertraute er einige Jahre vor seinem Tod scherzhaft seinem Sohn Peter an: „Ist doch herrlich, leben in Rom, gutes Essen, Reichtum an Kultur und kluge Gesprächspartner.“
Für den Politiker Brandt erfüllten die Kirchen, wie er 1972 einmal sagte, mit ihrem „Dienst an der Gesellschaft und am Menschen“ eine „wichtige öffentliche Aufgabe“. Inwiefern er sich als Privatmann religiös gebunden fühlte, habe sein Vater nicht weiter präzisiert, erinnert sich Peter Brandt: „Ich weiß nicht, ob es Gott gibt. Ich lasse das in der Schwebe.“ Willy Brandt starb am 8. Oktober 1992 an den Folgen einer Krebserkrankung.