Berlin. In den Augen der Union steht Bundeskanzlerin Merkel im Zenith der Macht. Allerdings ist SPD-Chef Gabriel nach der Mitgliederbefragung nun der starke Mann im Kabinett. Unterdessen rollt auf die CDU ein Streit um die Merkel-Nachfolge zu, für die sich offenbar von der Leyen warmläuft.

Was kann die große Koalition leisten? Angesichts der anstehenden Aufgaben müsste die Formel heißen: große Koalition = große politische Bewegung, was angesichts der Aufgaben - Europas Krise, Bildungschaos, Energiewende - wünschbar wäre. Bisher hat die Bundeskanzlerin eher auf kleine, machbare Schritte gesetzt, Krisen gemanaged - und ansonsten politisch wenig bewegt. Vielleicht aber gibt es nun einen Politikwechsel. Womöglich weniger durch die bloße Bildung der großen Koalition oder den Neuzuschnitt des Kabinetts - aber die erfolgreiche Befragung der SPD-Mitglieder zum schwarz-roten Koalitionsvertrag könnte wegweisend sein. SPD-Chef Sigmar Gabriel ist jedenfalls jetzt der neue starke Mann - in seiner Partei und auch in der Regierung an der Seite von Kanzlerin Angela Merkel.

Für sie könnte die große Koalition damit allerdings viel schwieriger werden als die schwarz-gelbe, in der FDP-Vizekanzler Philipp Rösler ihr weniger Stress machte als das CSU-Alphatier Horst Seehofer in Bayern. Es heißt, Seehofer und Gabriel hätten nicht nur das Zeug zum Zerwürfnis, sondern auch dazu, sich gegen Merkel zu verbünden.

Gabriel kann sich in der großen Koalition für höhere Weihen warmlaufen

In der CDU wird diese dritte Kanzlerschaft der Parteichefin nach dem großen Wahlsieg als ihr politischer Zenit betrachtet. Und es wird befürchtet, dass sich Gabriel als Superminister für Wirtschaft und Energie für die Wahl 2017 warmläuft, während sich die CDU womöglich in einer Debatte über die Nachfolge der Merkel-Ära aufreibt.

Gabriel ist unzweifelhaft der Mann der Stunde: Denn für die Spitze der Sozialdemokraten waren es quälende Wochen, weil sie nicht wusste, wie das Projekt Mitgliederbefragung ausgehen würde. Die ganze Partei, nicht nur ihr Vorstand, stand im Jahr des 150-jährigen Bestehens auf dem Spiel. Aber anders sah Gabriel keine Chance, die Sozialdemokraten vom Gegenteil der Wahlkampf-Aussage zu überzeugen: nicht Rot-Grün, sondern Schwarz-Rot. Am Ende kann Gabriel eine überraschend hohe Beteiligung von knapp 78 Prozent der 475.000 SPD-Mitglieder und das klare Ja von gut drei Viertel zu dem Bündnis mit der Union bekanntgeben.

Mitgliederbefagung als emotionaler Turbo

Gabriel prophezeit: "Dieser Tag wird nicht nur in die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen, sondern ich glaube, der Tag wird in die Geschichte der Demokratie in Deutschland eingehen." Am Sonntag im Willy-Brandt-Haus sagt er noch auf die Frage, ob es nun auch Mitgliedervoten zu Beschlüssen der Regierung geben werde: "Ein Parteivorsitzender, der seine Mitglieder dauerhaft nicht fragt, ist nicht lange Parteivorsitzender." Die CSU ließ nur ihren Vorstand und die CDU 167 Delegierte über Schwarz-Rot abstimmen.

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Merkel musste bei der Bildung des neuen Bündnisses Zugeständnisse wie zum Mindestlohn machen, die ihr schwer fielen und die nach Ansicht von CDU-Mitgliedern auch nicht zu ihrem Wahlsieg passen. Und nur fünf Ministerien bekommen die Christdemokraten, die 34,1 Prozent bei der Wahl holten. Die SPD mit nur 25,7 Prozent besetzt sechs, die CSU mit 7,4 Prozent drei Ministerposten.

Hat die CDU bei der Ressortverteilung den Kürzeren gezogen?

In der CDU rumort es bereits, weil die SPD mit Wirtschaft, Arbeit und Familie Ministerien führe, mit denen sie nah am Bürger sei und auch Geschenke verteilen könne. Dafür bekommt die CDU aber von der CSU das wichtige Innenministerium zurück. Die CSU hat zwar in Bayern bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit gewonnen und verteidigte deshalb auch ihre drei Ministerien wie bei Schwarz-Gelb. Doch sie verliert inhaltlich an Gewicht. Denn neben dem Tausch Innen gegen Entwicklungshilfe muss das bisher von ihr geführte Agrarministerium den Bereich Verbraucherschutz an das Justizressort abgeben.

Von der Leyen - die Sensation im Kabinett 

Die größte Sensation: dass Ursula von der Leyen als erste Frau Verteidigungsministerin wird. Eigentlich galt das Verteidigungsministerium nämlich als vergeben. Der bisherige Amtsinhaber Thomas de Maizière schien für weitere vier Jahre auf einem der schwierigsten Posten des Kabinetts gesetzt zu sein. "Ich habe so viel gesät - jetzt möchte ich mal ernten", hatte der CDU-Politiker selbst in Anspielung auf die von ihm konzipierte Bundeswehrreform gesagt, bei der sich die erwarteten positiven Effekte noch nicht eingestellt haben.

Jetzt wird den Job jemand anderes fortführen. Es ist das erste Mal, dass eine Frau die Befehlsgewalt über die Bundeswehr erhält. Die Kanzlerin kann die Personalie als Zeichen der Modernität ihrer Partei verkaufen. Und von der Leyen kann doch noch als Gewinnerin aus der Regierungsbildung hervorgehen - nachdem lange Zeit darüber spekuliert wurde, dass sie ins Gesundheitsministerium "abgeschoben" wird. In der CDU ist die zarte 55-Jährige mit dem robusten Auftreten nicht sehr beliebt, wird aber anerkennend als "Allzweckwaffe" beschrieben. Sie ist eine der ganz wenigen in der CDU, die überhaupt noch als Nachfolgerin von Merkel genannt werden. Alle anderen haben neben der Kanzlerin entweder ihre Ämter aufgegeben oder wurden von ihr ausgebremst - oder aus dem Kabinett geworfen wie Norbert Röttgen, der zuvor noch als nächster Kanzler in Frage kam.

International bewandert

Vor allem die internationalen Aspekte des Jobs dürften der 55-Jährigen gefallen. Die Mutter von sieben Kinder lebte lange Zeit im Ausland. Einen Großteil der Kindheit verbrachte sie in Brüssel, wo ihr Vater, der spätere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (ebenfalls CDU), bei der damaligen EG-Kommission arbeitete. 1977 ging sie nach dem Abitur (Durchschnittsnote: 0,7) für ein Jahr an die London School of Economics. Nach Medizinstudium, Heirat, Doktortitel und Geburt der ersten Kinder zog von der Leyen zusammen mit ihrem Mann Heiko für fünf Jahre nach Kalifornien. Beide waren an der Stanford Universität tätig.

In der Bundesregierung war von der Leyen bisher als Familienministerin für den Kita-Ausbau und als Arbeitsministerin für Hartz IV zuständig. Nun soll sie Chefin von 185 000 Soldaten und 70 000 Zivilbeschäftigten werden und verantwortlich für einen Etat von 33,3 Milliarden Euro sein. Bei internationalen Ministertreffen wird sie als Frau nicht ganz alleine sein. In den Niederlanden gibt es beispielsweise eine Kollegin, und Schweden hat mit Karin Enström sogar eine Verteidigungsministerin, die eine Offizierslaufbahn hinter sich hat.

Sprungbrett nach oben - oder ins politische Aus?

Ob sich der Bendlerblock für von der Leyen als Sprungbrett für die weitere Karriere eignet, ist allerdings noch fraglich. Zum dritten Mal hintereinander zieht jemand mit Chancen auf das Kanzleramt in das Ministerium ein. Vor vier Jahren wechselte Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) nach der Bundestagswahl vom Wirtschafts- in das Verteidigungsministerium und avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Superstar des zweiten Kabinetts Merkel. Die Plagiats-Affäre um seine Doktorarbeit ließ ihn dann allerdings noch schneller abstürzen als er aufgestiegen war. Nach seinem Rücktritt übernahm de Maizière die Truppe. Auch er blieb aber nur bis zur Affäre um die Skandal-Drohne "Euro Hawk" eine der wichtigsten Stützen der Regierung und einer der beliebtesten Politiker.

Lange Liste der Rücktritte

Von der Leyen ist als Verteidigungsministerin eine ähnliche Medienaufmerksamkeit sicher wie Guttenberg. Sie hat alle Chancen, sich weiter für höhere Würden zu profilieren. Das Amt birgt aber auch erhebliche Risiken. Die Liste der Rücktritte von Verteidigungsministern ist lang. Sie reicht von Franz Josef Strauß über Rudolf Scharping bis Guttenberg.

Allerdings könnte von der Leyen den Rüstungssektor wohl eher in den Griff bekommen als der durch die Drohnen-Affäre belastete de Maizière. Es gibt aber auch noch weitere Baustellen: Der Frust in der Truppe über die Bundeswehrreform ist groß, der künftige Afghanistan-Einsatz muss organisiert werden. Und dann gibt es da noch eine Aufgabe, für die von der Leyen prädestiniert ist: Der Anteil der Frauen der Bundeswehr liegt mit rund 10 Prozent noch weit unter der Zielgröße von 15 Prozent. (dpa)