Kiew. Rückschlag für die Sicherheitskräfte in der ukrainischen Hauptstadt Kiew: Der Versuch, das von Regierungsgegnern besetzte Rathaus zurückzuerobern ist vorerst gescheitert. Unter dem Druck tausender Demonstranten zogen sich die Polizisten zurück.

Tausende regierungskritische Demonstranten haben vorrückenden Polizeieinheiten in Kiew am Mittwoch die Stirn geboten. Nachdem Spezialkräfte in der Nacht auf den Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt vorgedrungen waren und am Vormittag versucht hatten, das besetzte Rathaus zurückzuerobern, mussten sie sich später unter dem Druck der Protestierenden zurückziehen. Unterdessen setzte Kiew die EU mit Milliardenforderungen unter Druck.

Die Spezialeinheiten rissen in der Nacht Barrikaden auf dem Maidan nieder und drängten Demonstranten mit Schilden zurück. Sie verwiesen auf eine Entscheidung der Justiz. Die Demonstranten widersetzten sich, viele stimmten die Nationalhymne an. Der Opposition zufolge wurden mehrere Demonstranten verletzt. Die Polizei sprach von zehn Verletzten in den eigenen Reihen sowie von mehreren Festnahmen.

Wieder mehr als 10.000 Demonstranten

Rasch bekamen die Protestierenden nach dem Polizeieinsatz wieder neuen Zulauf, einer Schätzung der Nachrichtenagentur AFP zufolge wuchs ihre Zahl binnen Stunden wieder auf mehr als 10.000 am frühen Morgen an. Umringt von Regierungsgegnern zogen sich die Beamten der Anti-Aufruhr-Einheit Berkut sowie des Innenministeriums schließlich in ihre Polizeiwagen zurück und verließen den Platz, wie ein AFP-Reporter berichtete.

Vor dem nahegelegenen besetzten Rathaus spielten sich ähnliche Szenen ab. Dort setzten am Morgen hunderte Sicherheitskräfte Schlagstöcke gegen Protestierende ein, die sich ihrerseits mit Knüppeln und aus dem Rathaus heraus mit Feuerlöschspritzen wehrten. Wegen eisiger Minusgrade gefror das Wasser umgehend. Nach der gescheiterten Rückeroberung des Gebäudes verließen die Beamten die Umgebung ebenfalls.

Westliche Staaten erbost über Gewalteinsatz in Kiew

Erbost reagierte der Westen auf den Einsatz von Gewalt in Kiew. Die US-Regierung sei "angewidert" von der Entscheidung der ukrainischen Behörden, mit Spezialeinheiten und Schlagstöcken gegen friedliche Demonstranten vorzugehen, erklärte US-Außenminister John Kerry. Dies sei "weder akzeptabel noch ziemt es sich für eine Demokratie". Seine Stellvertreterin Victoria Nuland besuchte am Mittwoch den Maidan und verteilte dort Brot an die Demonstranten und auch an die Sicherheitskräfte.

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Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton, die das Zentrum der Protestbewegung in Kiew nur Stunden vor dem Polizeieinsatz besucht hatte, reagierte "mit Trauer" auf den Polizeieinsatz. Sie hatte sich am Dienstag auch mit Präsident Viktor Janukowitsch getroffen, gegen den sich der Zorn der Opposition hauptsächlich richtet.

Kiew fordert finanzielle Unterstützung

Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bezeichnete die Proteste als "lebendigen Ausdruck des Wunsches der Menschen nach einer europäischen Ukraine". Diese ließen sich in einer Demokratie nicht einfach verbieten, erklärte er und forderte die Regierung auf, "von jeder Form von Gewalt Abstand zu nehmen". Im Europaparlament forderten die vier größten Fraktionen eine "offizielle Vermittlungsmission" der EU zur Beilegung der politischen Krise.

Vor dem Hintergrund des auf Druck Russlands gestoppten Assoziierungsabkommens mit der EU, woran sich die Proteste entzündet hatten, stellte Kiew nun Forderungen: Diese "Angelegenheit" könne "durch das Angebot von finanzieller Unterstützung an die Ukraine gelöst werden", sagte Ministerpräsident Mykola Asarow bei einer Kabinettssitzung. Die "ungefähre Größenordnung" liege bei 20 Milliarden Euro.

Ukrainische Delegation reist nach Brüssel

Auch Kiew sei an einer "raschen Unterzeichnung" des Abkommens interessiert, sagte Asarow weiter. Dafür seien aber gewisse Bedingungen nötig, die die "Verluste für unsere Wirtschaft minimieren". Zugleich wies er "Spekulationen" zurück, die Ukraine wolle in Moskaus Zollunion eintreten. "Die Regierung bereitet dazu kein Dokument vor."

Die ukrainische Regierung hatte am Dienstag angekündigt, am Mittwoch eine Delegation nach Brüssel zu schicken; eine weitere Abordnung soll zeitgleich zu Gesprächen nach Moskau reisen. Die Opposition fürchtet, dass Janukowitsch das Land nicht wie gefordert zum Westen öffnet, sondern stärker an Russland bindet. Sie verlangt daher seinen Rücktritt. (afp)